Pester Lloyd - reggeli kiadás, 1930. december (77. évfolyam, 275-297. szám)

1930-12-02 / 275. szám

(Copyright Th. Knaor Nachf., Berlin.) 1 Das Eiend der Rnsscnm Paris Roman 26 Von Joseph Kessel Plötzlich wurde diese halb mystische Stimmung von einem schrillen Pfiff zerrissen. Das war Fürst Heridze, der, zwei Finger im Mund, ihn ausgestoßen hatte. „Hei, heil“ kreischte Fedor. Und ohne Übergang, wie ein hereinbrechender Zyklon, erscholl eine tolle Hymne. Dieselben Män­ner, dieselben Frauen, die soeben die Melancholie der vagabundierenden Horden in unendlich feinen Nuancen hervorgezaubert hatten, wurden eine Beute kreischender Dämone. In beschleunigtem Tempo, das noch immer schneller wurde, sangen sie mit glän­zenden Augen und angespannten Muskeln, ganz hin­gerissen von feurigem Wein und schönen Mädchen. Sie schienen vor übermächtiger Freude zu seufzen. Und der gleiche priesterliche Tänzer verwandelte sich in einen springenden Faun. Die Pfiffe Heridzes, die Dschigitenschreie Fedors, das Händeklatschen der übrigen schrieben seinen Sprüngen einen dämo­nischen Takt vor. Mechanisch füllten Helene und Stefan die Glä­ser und leerten sie unaufhörlich. Sie wußten nichts mehr von Ort und Zeit, sie wußten nur, daß dieser Augenblick schön war und daß ihre Körper zärtlich verschmolzen zu sein schienen. Alle beide erzitterten, als die Stimme Anton Irtitschs, etwas langsamer als gewöhnlich, über ihren dicht aneinander geschmieg­ten Köpfen erklang. „Ich gehe jetzt.“ Mit verständnislosen Augen sahen sie ihn an. Irtitsch war betrunken, aber hellsehend. „Es ist neun Uhr,“ sagte er, „mein Zug fährt in fünfunddreißig Minuten.“ „Ach, laß doch deinen Zug,“ schrie Stefan mit glücklichem Lachen. „Heute ist alles ganz gleich­gültig.“ „Ei, ei,“ sagte Anton Iwanitsch gewichtig, „du bist ja heute fein im Schwung. Es ist nur gut, daß du dein Buch fertig hast. Ich aber bin da unten noch nicht fertig. Und wenn ich noch zehnmal soviel ge­trunken hätte, würde ich doch abfahren. Helene Borissowna,“ fuhr er fort — und wenn sie in nor­malem Zustand gewesen wäre, hätte sie auf diesem gewöhnlich undurchdringlichen Gesicht ein heftiges Zucken bemerkt —, „Helene Borissowna, wir wer­den uns bald Wiedersehen.“ „Aber nicht doch, nicht doch, sage uns nicht Lebewohl,“ rief Stefan aus. „Wir begleiten dich. Nicht wahr, Lena?“ -• Als sie auf die Schwelle des Restaurants traten, schien die Sonne ihnen voll ins Gesicht, und Helene mußte sich auf Irtitschs Arm stützen, um nicht zu schwanken. Sie stiegen in ein Auto. Auf dem Wege nach dem Nordbahnhof fuhr Helene fort: „Ich nenne ihn Ste­fan, wie komisch. Und ich kenne ihn doch kaum. Wenn ich seine Bücher lese, schüchtert er mich so sehr ein. Ein großer Schriftsteller! Nun, was kann das schon schaden! Vor allem ist er ein großer Säu­fer wie ich.“ Ehe er in sein Abteil sprang, zog Irtitsch auf dem Bahnsteig Morski rasch zur Seite und sagte mit gedämpfter Stimme: „Pass’ gut auf sie auf, ich bitte dich darum, Stefan Matwejitsch. Schone sie in jeder Weise. Und wenn du kannst, hindere sie am Trinken.“ Er umarmte ihn stürmisch, schloß die Tür und sah sie bis zur Abfahrt nicht mehr an. Allein geblieben, empfanden Helene und Stefan trotz ihrer Trunkenheit ein sonderbares, peinliches Gefühl. Eine Sekunde lang dachten sie beide daran, in das Restaurant zurückzukehren, um dort wieder von der ursprünglichen Heftigkeit mitgerissen zu werden, die sie von diesem Zwang befreien würde. Aber der schöne Sommermorgen hatte sie entzaubert. Das Bild dieser Hölle war ihnen unerträglich, da es einen so hohen Himmel und eine so schöne Sonne gab. Unentschlossen standen sie vor dem Bahnhof. Trotz ihrer Eile blieben die Reisenden stehen, um diese Frau im Maskenkostüm zu betrachten. Immer schwe­rer lasteten die Minuten auf ihnen, aber doch fühl­ten sie, daß sie sich nicht trennen konnten. Um ihr eigentliches Wollen etwas hinauszu­zögern, um Zeit zu gewinnen, schlug Stefan vor: „Gehen wir doch ins Bois de Boulogne.“ „Oh! Das möchte ich gern,“ rief Helene. „Den­ken Sie sich, seit drei Wochen habe ich mich nicht von Pigal fortgerührt.“ Dieses Wort schien sie plötzlich ihrem Rausch wiederzugeben. Während der ganzen Fahrt schwatzte sie lauter unzusammenhängendes Zeug und hörte nicht auf, krankhaft zu lachen. In ihrer krankhaften Aufregung schien es ihr, als ob dieser Mann ein Zauberer wäre, da es ihm gelungen war, sie, wenn auch nur für einen Morgen, aus dem verhängnisvollen Kreis, in dem sie gefangen war, loszureißen. Und in ihm wogte eine tiefe Ver­wirrung, da Helenes Stimme so voll leidenschaft­licher Trauer und sinnlicher Zärtlichkeit war. Plötz­lich fing Helene so stark zu zittern an, daß ihre Zähne aufeinander schlugen. „Ich werde sterben,“ rief sie, „wenn ich nicht etwas Alkohol bekomme.“ Er ließ das Auto vor einem der Restaurants im Bois halten. Die Kellner, die den Saal säuberten, waren entsetzt, als sie diese betrunkene Frau herein­kommen sahen, die in bunte Flitter gekleidet war und ein seidenes Tuch um den Kopf geschlungen trug. „Sie muß sich erwärmen,“ murmelte Stefan. „Gut,“ sagte der eine Kellner, „ich werde Sie in den Heizraum führen.“ Sie stiegen mit ihm drei unter der Erde gelegene Stockwerke eine sehr steile Treppe hinab, auf der Helene andauernd strauchelte. Endlich gelangten sie in einen Keller voller Kohlen, wo auch die Heiz­anlage war. „Bringen Sie mir Kognak und Backwerk,“ sagte Helene. Sie trank den Alkohol in großen Schlucken. Dann kehrten sie nach Paris zurück. Stefan folgte Helene ins Hotel und sie widersetzte sich dem nicht. Das erste, was sie oben tat, war, eine Flasche Kognak zu bestellen. Sie tranken sie schweigend, mit verschlossener Miene aus. Eine schreckliche, schwere, tierische Trunkenheit überwältigte sie. Die junge Frau konnte sich endlich nicht länger auf­rechterhalten. Sie verfiel ihm. V. Stefan war unfähig, zu lieben. Er war der ihn erfüllenden Fabelwelt zu sehr verfallen, um die Lebenden ernst zu nehmen. Sie boten ihm nur Stoff zu Formungen. In der Liebe — muß man geben. Spontan und gleichgültig schenkte Stefan wohl allen seine Freundlichkeit, die aus Natürlichkeit, Poesie und kindlicher Güte bestand, und seine Stimme, die eines Vogelfängers und Zauberers, schien sie stets von neuem rückhaltlos zu enthüllen — aber sein inneres Leben, sein wahres Leben, war so eigenartig, so anspruchsvoll und verschlossen, daß er davon nichts verchenken konnte, um wen immer es sich audit handeln mochte. Wera Petrowna wurde unruhig, als sie Helene am nächsten Tag nicht zum Chor kommen sah. Sie schickte Ludmilla zu ihr. „Schnell, schnell,“ sagte Helene und erhob sich. „Wir müssen gehen.“ Sie nahm sich nur Zeit, sich das Gesicht zu wa­schen und sich zu schminken. Als sie auf die Lippen Rot auflegte, wollte Stefan sie umarmen. Sie stieß ihn fast mit Ekel zurück und rief: „Nein, nein, ich will nicht.“ Aber als sie schon hinausgehen wollte, kehrte sie plötzlich zu ihm zurück, umschlang seinen Hals mit heißen Händen und preßte sein Gnomengesicht an ihr Antlitz. Und er folgte Helene mit wirrem Kopf in den „Samowar“. Dort wurde er von allen mit Freude und Freund­schaft empfangen. Das Fest der vergangenen Nacht wob um Stefan einen Glorienschein, noch mehr als um den freigebigen Irtitsch. Die liebevolle Umgebung wiegte Stefan sanft ein. Beim Anblick der um ihn versammelten schönen Gesichter Helenes, Wera Petrownas und Fedors war er vollkommen glücklich. Mit gedämpfter Stimme sang die Zigeunerin ergreifende Klagen, und nur für ihn. Fedor, in seiner lässigen Kraft, mit der Hand am Dolch, erschien ihm als die herrliche Schildiwache ihres Vergnügens, und der dunkle Mund Helenes war die Lust selbst. Die junge Frau dachte an nichts. Das Licht, die Musik, der Lärm im Restaurant und ihre Müdigkeit machten sie unempfindlich. Die Stunden vergingen aber sehr schnell, und sie empfand nicht mehr, daß die Nacht für sie zur Routine geworden war, denn ihr gegenüber saß ein großer magerer Körper, machte linkische Bewegungen, über die sie gerührt war, und eine seltsame Maske, die den Stempel des Genies, der Häßlichkeit und Kindlichkeit trug, lä­chelte ihr von Zeit zu Zeit zu. Inmitten all dieser Männer, all dieser Frauen von Pigal, gierig, verängstigt, fiebrig, ohne anderen Horizont als denjenigen der Chronik dieser Nacht­lokale, hatte Helene sich allmählich daran gewöhnt, dieses elende Volk als das ihre anzusehen; jetzt aber saß unter ihnen ein Mensch, der so wunderbar kind­lich von Träumen, Zärtlichkeit und Unschuld er­füllt war, und der vor allem von weit her, von ganz wo anders kam. Und dieser Bote aus einer anderen Welt, wo alles befreit und klar war ... Plötzlich spürte Helene, wie ihr Herz sich ein wenig zusammenzog. Wera hatte soeben eine Ro­manze gesungen, und Stefan liebkoste ihre silber­weißen Haare mit dem leichten malvenfarbigen Schinnner. Nun wollte Helene singen. Sie wählte das Lied, durch das sie zu siegen gewiß war. Es glühte von Unbekümmertheit, Zorn und Trunkenheit. Wenn sonst der letzte, wilde Akkord der Gitarre ertönte, hatte sie das Gefühl, das wahre Wesen ihrer Seele entfesselt zu haben. Aber dieses Mal glaubte sie einen falschen Ton in der Heftigkeit und Heraus­forderung zu finden, so, als ob sie nicht mehr mit sich einig war, als ob etwas Wichtiges, Notwendiges, das sie zu sagen hatte, unausgedrückt bliebe. Und als Stefans Küsse auf ihrem sich leicht neigenden Nacken brannten, empfand sie keine Freude darüber, nur eine dumpfe Mutlosigkeit. Nicht das hatte sie gesucht, als sie sich neben ihn setzte. Was aber nur? Hatte er nicht recht, sie nach diesem Lied wie eine Dime zu umarmen? Schon so lange Zeit hatte Helene nicht mehr zu­sammenhängend gedacht, nicht mehr ihr Inneres er­forscht, daß sie bei dieser drohenden Erkenntnis er­schrak. Sie erschauerte unter den in Flittem geklei-. deten Zigeunern so tief wie früher, als sie noch nicht eine von denen in Pigal war. Nein, nein, sie wollte von dieser Fähigkeit, sich zu ergründen, nichts mehr wissen, nicht mehr leiden. Und es gab ein Mittel, diesen Hang zu ersticken, es befand sich vor ihr, es war von sicherer Wirkung und erprobt. Sie hatte ja die Medizin, die goldig im Kelche schimmerte. Sie griff danach. So ging es einige Tage lang. Es spielten sich immer die gleichen Dinge ab,- nach demselben Takt; denn es gibt nichts Monotoneres und auch nichts Anspruchsvolleres als die nächtlichen Gewohnheiten. Gegen Mitternacht kamen Helene und Stefan im „Samowar“ an, wo sie bald Ritzin, Fedor und Wera trafen. Nach und nach betranken sie sich — unver­meidlich; denn die Zeit bis zum Morgen ist lang. Der Alkohol erfüllte sie dann mit nervöser Freude, er jagte sie von einem der kleinen russischen Re­staurants zum anderen. Überall tranken sie, um endlich ermüdet, mit toter Seele, einander begeh­rend, niederzusinken. Wie lange hätten sie wohl so gelebt, wenn Stefan reich gewesen wäre? Er stellte sich später oft diese Frage, ohne sie je beantworten zu können, und er erschauerte bei dem Gedanken, was aus ihm geworden wäre, wenn seine Mittel es ihm gestattet hätten, immer unter dem blendenden Zauber der Nächte des Pigal zu bleiben. Natürlich war er unfähig, zu rechnen, da er aber stets sein ganzes Geld bei sich trug, fiel ihm der Überschlag nicht schwer. An dem Morgen, als er aus seiner chinesischen Geldtasche, die ganz mit fremdartigen Zeichen bedeckt war, den letzten Tau­sendfrancsschein nahm, den Rest des Erlöses für sein Buch, wußte er, daß der „Samowar“ ihm fortan verboten war. Diese Fesstellung betäubte ihn ein wenig. Nicht etwa aus Angst vor der Armut, o nein, von allen russischen Emigranten war er am meisten an sie gewöhnt, schon von Jugend auf. Er lebte immer von der Hand in den Mund. Aber es machte ihn bestürzt, daß er nun auf so viele liebe Gewohn­heiten verzichten sollte. Aber es kam der Tag, an dem Stefan Helene küßte und ihr sagte: „Lebe wohl, meine kleine Lena, ich werde dich verlassen, schlafe wohl.“ „Warum denn, hast du etwas einzukaufen?“ fragte sie voller Zärtlichkeit „Schicke doch den Kellner wie gewöhnlich. Oder willst du einen Freund besuchen? Du kannst morgen zu ihm gehen.“ Stefan bewegte den großen Kopf hin und her und fuhr heiter fort: „Nein, ich gehe zu mir nach Hause, ich habe kein Geld mehr.“ „Aber ... Stefan ... aber ... wann werde icK dich Wiedersehen? Morgen? Nein? Übermorgen?“ „Weißt du, ich wohne so entlegen. Sicherlich kennst du nicht einmal die Gegend, am Park Mont­­souris. Und die Autobusse, die Untergrundbahn — ich weiß nicht einmal, wie ich heute morgen damit fertig werde. Nein, mein Liebling, wenn ich einmal in meiner Höhle bin, dann gehe ich nicht mehr heraus.“ Er sprach so freundlich wie immer, mit seinem kindlichen Blick. Und diese Natürlichkeit und Leich­tigkeit taten Helene entsetzlich weh, weher als seine Worte. Sie hatte das seltsame Gefühl, daß sie nicht mehr ein menschliches Wesen sei, sondern ein Schatten ohne Bedeutung, durch den Stefan hin­durchschritt. „Nein, Liebling,“ fuhr er fort, „ich habe mit Pigal Schluß gemacht.“ „Nein, Stefan, das ist nicht möglich.“ „Aber was nur, Liebling?“ fragte er, erstaunt über die plötzliche Verwüstung, von der Helenes Züge zeugten. „Daß du fortgehst, daß du mich verläßt.“ „Ich verstehe nicht; es muß doch sein.“ „Geh nicht fort, geh nicht fort,“ bat sie feurig, „ich liebe dich zu sehr.“ Sie umklammerte seine Handgelenke. Er stand bestürzt da, beinahe verletzt über diese hartnäckigen Bitten, bei ihr zu bleiben. Da erkannte Helene, daß zum ersten Male in ihrem Leben etwas, die Haupt­achse ihres Wesens, wankte: ihr Stolz. „Ich bitte ihn, ich flehe ihn an, ich,“ sagte sie sich, und sie empfand mehr Schrecken darüber als Scham. Blitzschnell zogen an ihrem Auge die Gesichter der Männer vorüber, die sie verwöhnt oder begehrt hatten: Wassia, Fedor, andere in Rußland, alle aus dem „Samowar“, selbst Irtitsch. Sie hatte sie be­herrscht oder einfach voller Ekel zurückgestoßen. Und jetzt klammerte sie sich an und bettelte. ,So antworte doch,“ schrie sie mit verzweifelter Heftigkeit. „Lass’ mich doch nicht vor dir auf den Knien liegen.“ Bei ihrem schrillen Schrei wich Stefan zurück. Er führte die Hände an die Stirn, als ob er seine Gedanken klären wollte, um endlich zu verstehen, was diese verwirrte Frau von ihm verlangte. „So verstehe doch, Liebling,“ sagte er so sanft wie er konnte. „Ich habe dir doch alles genau er­klärt. Ich weiß nicht mehr, wovon ich hier leben soll.“ Er sah wie ein Kind aus, das sich verlaufen hatte. Bei diesem Anblick wurde Helene wieder ruhig. Er wollte also nicht auf ihr Flehen hören. Wußte er überhaupt, was Stolz war? Warum sprach sie nicht einfach und verständlich mit ihm? Sie würde ihn schnell überzeugen. ' ^Fortsetzung folgt.}' «11 • (Dienstag, 5. Dezember 1930 PESTER LLOYD

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