Kirchliche Blätter, 1910 (Jahrgang 2, nr. 1-53)

1910-06-11 / nr. 24

­—280—­­ die erste Stimmung.Man schüttelte den Kopf und spreizte die Arme gegen den törichten Störer und Zerstörer.Man schloß ihm die Türen.Aber schon zu Anfang der 90er Jahre überwog die entgegen­­gesetzte Stimmung Aus den Titelblättern seiner Bücher stand 50. Tausend. Nicht nur die Salons öffneten ich ihm, sondern auch auf der Straße und an den Zäunen Fangen seine Gedanken wider. Mit froher Zustimmung, ja mit bachantischem Jauchzen bekannte man sich zu seinem „Evangelium der Kraft“. Immer weitere Kreise erwählten ihn zum geistigen Führer und sein Einfluß zunächst auf die Literatur und auf diesem Weg auf die Lebensanschauung der heutigen Gesellschaft ward immer größer. — Sehr scheint die Zeit gekommen zu sein, in der die dritte Gruppe wächst und zur Geltung kommt, die Gruppe, die weder abzugslos verdammen, noch bedingungslos sich eingeben will, welche dem in seiner P­ersönlich­­keit und seinen Ideen gegebenen Problem erst näher tritt, weil sie erkennt, daß es mit ein paar billigen Schlagworten oder kräftigen Verwünschungen nicht abgetan werden kann. In diese Gruppe dürfen wir uns rechnen. Auch in diesem Kreise handelt es sich darum, allem Sturm und Drang der Gegenwart gegenüber objektiv ab­­zuwägen und zu werten, was sie zu den uns über­­lieferten Werten s christlicher Religiosität und Sittlich­­keit hinzubringt, um zuleit einen Standpunkt zu ge­­winnen und zu festigen, auf welchem es möglich­ ist, neue, wirkliche Werte mit den alten Idealen zu ver­­einigen und altes und neues zu einer Geist und Ge­­miüt befriedigenden Weltanschauung zu verschmelzen. Bei seinem modernen Denker ist der Zusammen­­hang seiner Grundideen mit seiner Persönlichkeit so durchsichtig, als bei Niegid­e. Aber gerade das, werfen er sich nicht erfreut, was er nicht den­kt, dessen Mangel ihn am meisten quält, das wird ihm zum Träger höchster Werte. Zur richtigen biographischen Erfassung dieser Persönlichkeit befinden wir uns freilich nicht in gün­­stigster Lage. Die ausführliche Biographie aus der Feder seiner Schwester, Frau Förster, steht in wesent­­lichen Punkten in Widerspruch mit besserem, päter erschienenem Material. Sie trägt den Charakter einer Heiligenlegende, die auf Goldgrund malt. Bei allen Konflikten mit bedeutenden Zeitgenossen sind immer die Anderen schuld und störend wirft auch die Tendenz, seine Originalität hervorzuheben, ihn mög­­lichst aus allen geschichtlichen Zusamm­enhängen heraus­­zuheben. Entscheidende Seiten seines Charakters er­­scheinen verfannt und verzeichnet. Zur Korrektur dienen aber seine Selbstbiographie »Ecce homo«, der immer reichhaltiger werdende Briefwechsel und Veröffentlichungen von Personen, die ihm im Leben begegnet sind, vorzüglich aber die Fülle von Selbst­­erlebtem, wovon er in seinen Werten spricht. Der äußere Verlauf seines Lebens ist folgender: Niebiche gehört einer alten Theologenfamilie an. Auch sein Vater war Pfarrer in Nöden bei Lüben. 1844 geboren, verlor Niebiche schon im 5. Lebens­­jahre den Vater, wurde Zögling in Schulpforta, studierte in Bonn und Leipzig Philologie und wurde schon 1868, also erst 24 Jahre alt, noch nicht ein­­mal zum Doktor promoviert, als Verfasser bedeutender philologischer Arbeiten, Professor in Basel. Damit wurde ihm allzu früh eine Arbeitslast auf die Schultern gelegt, der sein zarter Körper nicht gewachsen war. Schon 1878 mußte er jeder öffentlichen Wirksamkeit entsagen. Im 36. Lebensjahr, sagt er selbst, kam ich auf den niedrigsten Punkt meiner Vitalität. Ich lebte noch, doch ohne 3 Schritt weit von mir zu sehen. Fortan lebte er als Kranker im Sommer in Engadin, im Winter an der Riviera, einsam, oft bis zum Lebensüberdruß gepeinigt von tarfen Augenleiven und heftigem Kopfschmerz, schließlich Fast erblindet, an jeder zusammenhängenden Arbeit gehindert, auf fremde Pflege angewiesen, bis er im Jahre 1889 in völlige geistige Umnachtung verfiel. Noch 11 Jahre widerstand sein Körper unter der Pflege der Mutter und später der Schwester der Auflösung. Er starb am 25. August 1900 in Weimar und wurde in seinem Geburtsort Röken begraben. Kein Geistlicher durfte an seinem Sarge sprechen. Besonders scharf hervortretende Züge in seiner Augendentwickklung sind, daß er damals schon ein sehr Lebhaftes Freundschafts- und Führerbedürfnis an den Tag legte, daß er viel auf strenge Wahr­­haftigkeit hielt und alles Umreine so sehr verachtete und mich, daß in seiner Gegenwart ausgefalfene Jugendgenossen niemals ein­ anzügliches oder zw­ei­­deutiges Wort wagten. Er war ein Feind aller niederen Begierden und Genüsse, des Alkohols und jeder Unmäppigkeit überhaupt. Die tendenzlose Forschung muß sowohl die Versuche solcher Gegner seiner Welt­­anschauung zerstören. Die Argumente wider dieselbe aus einem grob unsittlichen Leben herleiten möchten, wie umgekehrt das Verlangen der jeunesse dorce, in Niepsche ein Vorbild und einen Patron zu finden, der ihr Treiben mit der Glorie des Medermenschen­­tums frönt. Das darf und muß ausdrüclich gesagt werden, weil ihm so wenig gelungen ist, was er im Born einmal ausruft: „Ich will Zäune um meine Gedanken haben und auch noch­ um meine Worte, daß mir nicht in meine Gärten die Schweine und Schwärmer brechen!” In politischer Beziehung reden wir ihn noch 1866 in großer preußenfreundlicher­ Begeisterung. Auch 1870 war er noch patriotisch gesinnt und so sehr ein Freund der Mitleidsmoral, daß er, da ihm als Schweizer aktiver Dienst versagt war, freiwilliger Krankenpfleger wurde. Spät n­r schlug dieses pa­­triotische Fühlen allmählich ins Gegenteil bis zu wahrhaftigem Haß gegen alles Deutsche um. In ganz seltsamer Weise drückt sich dieser aus. Einmal hat er unbändige Freude darüber, daß sich nachweien ließe, seine F­amilie sei polnischer Herkunft. Ein andermal leitet er in Bausch und Bogen den deutschen Geist „aus betrübten Eingeweiden“ her, weil sie so schlecht äßen und so viel tränfen. Soweit eigentlich noch­ von deutschem Geist gesprochen werden darf, denn er sagt auch: man kommt beim Deutschen bei­ _

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