Bukarester Gemeindeblatt, 1922 (Jahrgang 14, nr. 1-53)

1922-01-01 / nr. 1

Jahrgang X iV .________________Sonntag, 1. Januar 1922 / Bukarester Gremeindeblatt Schriftleitung: H. Honigberger. Oeschältsstslle: GemeindeKanzlei, Str. Lutherana 10 Unser Kirelienliederdiehter. Unter dieser Ueberschrift wollen wir kurze Le­bensbeschreibungen einiger unserer bedeutendsten Kirchenliederdichter geben, damit uns ihre Persön­lichkeiten lebendiger werden und wir ihren Liedern ein besseres und tieferes Verständnis entgegenbringen können. Denn was von allen Dichtern gilt, dass ihre Werke innig Zusammenhängen mit den Lebensschick­salen und der 'Wesensart, ihrer Verfasser, das gilt auch von den Sängern unserer Kirchenlieder. Leben und Dichten lassen sich nicht von einander trennen. Hätte wohl ein anderer ein so kraftvoll-mutiges Lied wie „Ein feste Burg ist unser Gott“ schaffen können, als gerade Luther?Wenn wires lesen oder singen, so sehen wir im Geiste seind männliche Erscheinung mit den kühnen Bück im Auge. Doch nicht mit Luther, auch nicht mit Paul Gerhardt soll unsere Uebersicht beginnen, wir wollen mit einen dem Namen nach weniger bekannten den Anfang machen, vom dem aber ein Lied fast so bekannt und geliebt ist wie ein Volks­lied. Es ist der Dichter von „Ich bete an die Macht der Liebe“. Gerhard T ersteegen. Wenn wir von dem Leben dieses Mannes gar nichts wüssten, so könnten wir doch schon allein aus diesem einen Lied auf sein Wesen schliessen. Er muss ein tiefes inniges Gemüt gehabt haben er kann keine Kämpfernatur wie Luther gewesen sein, die mitten im Streit mit Feinden steht und sich ihrer erwehren muss, wir können ihn uns lebhaft vorstellen, wie er in seiner stillen Stube sitzt, über die Bibel gegeugt, aus der das Johannesevangel. ihm das liebste Buch ist, wir hören ihn im kleinen Kreise Gleichgesinnter in warmen Worten das Glück preisen, das er in den innigen Gemeinschaft mit dem Erlöser besitzt. Auch nach seiner äussern Erscheinung können wir ihn uns denken, klein, schmächtig, mit zarten kleinen Gliedern, mit Augen voll Güte und Freundlichkeit. Tersteegen muss dass gewesen sein, was man eine weibliche Natur nennt. Der Name deutet auf Holländischen Ursprung. Und in der Tat, er lautete anfänglich Ter Steegen (auf deutsch: Zur Stiegen). Unser Dichter ist am 25. November 1697 in Mörs geboren, das damals noch unter holländischer Herrschaft stand, bald aber in preussischen Besitz kam. Er war der jüngste von 8 Geschwistern und hatte das Unglück in seinem 7ten Lebensjahre schon seinen Vater, einen durch Recht­schaffenheit und Frömmigkeit allgemein geachteten Kaufmann, zu verlieren. So wuchs er hauptsächlich unter dem Einfluss seiner Mutter heran. Da er kör­perlich nicht sehr kräftig war, so war ihm schon durch seine Natur in jungen Jahren ein zurückgezo­genes Leben geboten, das ihm aber deswegen lieb wurde, weil er mit brennenden Eifer lernte und als einer der besten Schüler die Lateinschule seiner Va­terstadt durchlief. Tersteegen hat mehrere Sprachen, darunter die holländische und die französische, voll­kommen .beherscht und auch später Uebersetzungen aus ihnen angefertigt. Familienverhältnisse aber Hessen es aber nicht dahin kommen, dass er die Universität beziehen konnte; die Mutter gab ihn nach Mühlheim, wo er bei seinem Schwager Kaufmann werden sollte. Dies mag dem jungen Bücherliebhaber einen schwe­ren Entschluss gekostet haben. Auch sonst sind ihm die Lehrjahre bitter sauer geworden; aber er ’ fand seinen Trost in den Büchern, über denen er tief bis in die Nacht sass, sicherlich zum Schaden seiner Ge­sundheit, aber doch wurde ihm Mühlheim iieb und für sein ganzes Leben bedeutungsvoll, ln Tersteegens entwicklungsjahre fällt jene tiefgreifende Bewegung innerhalb unserer evangelischen Kirche, die wir un­ter den Namen Pietismus kennen und der wir unend­lich viel für die Erneuerung und Vertiefung unsere Glaubenslebens verdanken. In Mühlheim kam er bald in Berührung mit sol­chen Kreisen —•' man nannte sie die „Stillen im Lan­de“ — und für alles, was er mit seinem welchen Ge­müt in der Welt entbehren und erleiden musste, fanu Tersteegen Trost in den kleinen frommen Kreisen, die sich kein anderes Ziel gesetzt hatten, als die Liebe untereinander zur täglichen Tat werden zu lassen. Dazu kam nun ein äusseres Erlebnis. Von seinem Schwager auf eine Geschäftsreise geschicki, wurde er unterwegs von heftigen Schmerzen befallen, sodass er sein Ende nahe glaubte und eine ungeheu­ere Angst befiel ihn bei dem Gedanken, vielleicht in wenigen Minuten als Unwürdiger vor Gottes Richter­stuhl treten zu müssen. Die Todesgefahr ging wohl vorüber, aber die Erinnerung daran hat ihn niemals verlassen, sondern wurde ihm der Anlass zu eine" tiefgehenden Umwandlung. Nachdem die Lehrzeit beendet war, eröffnet Tersteegen ein eigenes kleines Geschäft. Allein das unruhige Leben, den ganzen Tag hinter dem Laden­tisch stehen, um auf tausenderlei Wünsche eingehen zu müssen, behagte ihm nicht; er konnte nicht zu sich selbst kommen und er beneidete im Stillen sei­nen Nachbar, der Leinenweber war, um sein ruhiges und einsames Gewerbe, bei dem es sich so unge­stört nachdenken liess. Kurz entschlossen verkaufte er seinen kleinen Laden und erlernte die Seidenbank- Wirkerei, da der grosse Webstuhl für Leinwand mehr

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