Bukarester Gemeindeblatt, 1927 (Jahrgang 19, nr. 1-52)

1927-01-02 / nr. 1

Do. t Dahrgang XIX Sonntag, den 2. Uanuar 1927 Buharester Qemeindeblatt Schriftleitung: R. Honigberger Geschäftsstelle: Gemeindekanzlei, Str. Lutherana 12 Zum neuen Jahr! „Wer im Geringsten treu ist, dtr ist auch im Grossen treu; und wer im Geringsten unrecht ist, der ist auch im Grossen unrecht.“ (Luc. 16,10.) Wieder stehen wir an einer Jahreswende, wie­der ist ein wichtiger Abschnitt unseres’ Lebens vergangen und sind wir im Begriffe, in ein neues Jahr eingetreten. Was ist ein Jahr? Ein kurzer Au­genblick vor Gott, \or dem 1000 Jahre sind wie der Tag, der gestern vergangen ist; ein bedeutungs­voller Zeitraum für uns Menschen, die wie Ein­tagsfliegen über diese Erde wandeln. Wie viel er­leben wir oft in einer einzigen Minute. Nun gar in einem1 Jahr mit seinen 365 Tagen, mit seinen annähernd 9000 Stunden, mit seinen die halbe Million weit überschreitenden Minuten! Wie viel hat sich seit unserm letzten Neujahrsfeier geän­dert: Geburten, Hochzeiten, Beerdigungen, grosse und kleine Freuden und Leiden, welche Fülle von Arbeiten aller Art, wieviel grosse und kleine Ereig­nisse im1 Volksleben, ini Staats- und Weltge­schehen — was1 besagen diese kurzen Worte alles! Ein Jahr •— dieser flüchtige, verschwindend kleine Augenblick im Angesicht der Ewigkeit, wie wichtig und gross ist es für uns Menschen! Was ist gross und was klein? Auch ohne Ein­steins epochemachenden Forschungen wissen wir, dass es relative Begriffe sind. Alles Grosse setzt sich aus Kleinem und Kleinsten zusammen: das Jahr aus Sekunden und Sekunuenteilchen, das Meer aus einzelnen Tropfen, die Erde aus Sandkörnern, das Weltall aus unmessbar kleinen Atomen und Molekülen. Und wieder: aus Kleinstem kann Grösstes werden! Selbst das Menschenleben und Menschheitsleben mit all seinen grossen Umwäl­zungen und Revolutionen, entwickelt sich aus un­scheinbarsten, geringfügigsten Vorgängen. Ir­gendwo im! verborgenen entsteht ein neuer Gedan­ke, zunächst kaum beachtet, dann ein ganzes Zeit­alter in seinen Bann zwingend. Die Geschichte vom Senfkorn, aus dem das Reich Gottes erwachsen soll, wiederholt sich immer aufs Neue! Wer das sich einmal klar gemacht, der erkennt sofort die Wahrheit des Heilandswortes: „Wer im Geringsten treu ist. der ist auch im' Grossen treu...” Und dbr wird uns auch zustimmen, wenn wir uns gerade dies Wort zum Wahlspruch für das Jahr 1927 erwählen. ! Was wird uns das neue Jahr bringen? Wer wollte wagen als Prophet in unsere Mitte zu treten und uns zu weissagen? Vielleicht wird es auch an grossen, erschüttenden Erlebnissen für die Ein­zelnen und für die Menschheit als Ganzes darin nicht fehlen. Sicher aber wird es jedem von uns ein voll gerüttelt und geschüttelt Mass an kleinen Leiden und Freuden, an Mühen, Arbeiten, Plak­­kereien aller Art bringen. - Aber gerade darin liegt die grösste Gefahr für unser sittliches Leben. Es ist doch immer so: Ausserordentliche Lebens­erfahrungen erhöhen den Menschen. Eine grosse Freude macht uns dankbar, begeistert uns vielleicht gar zu grossen, edlen Taten. Der gewöhnliche Lebensgenuss, die kleinen Freuden und Annehm­lichkeiten des Lebens aber übersehen wir allzu leicht. Selbst grosse Leiden, erschütternde Schick­salsschläge können unsere-sittlich religiösen Kräfte aufrütteln, wogegeţKiie kleinen Sorgen und Aer­­gernisse, die kleiden Nadelstiche und Enttäuschun­gen des Alttags* unsere Geduld auf die schwerste Probe stellen. Der Seemann früherer Zeiten wusste wohl, warum er vor der Windstille so heftigen Widerwillen empfand. Er wünschte sich lieber den Sturm, denn der stählt und feuert an, während das Nichtstun, das müssig liegen den Menschen innerlich und äusserlich zermürbt. Wir erfahren das auch an uns selbst immer wieder. Werden wir vor eine grosse Aufgabe ge­stellt, dann ist es uns, als ob plötzlich unsere Kräf­te wüchsen; nun sind wir zu jedem! Opfer bereit, wir fühlen uns begeistert und erhoben und stau­nen fast selber darüber, was wir vermögen. Aber wenn es gilt die oft so langweilige, geisttötende Kleinarbeit des Alttags zu leisten, dann halten die wenigsten Stand. Nicht als ob sie die Arbeit scheuten. Man lässt sich jedoch gehen, macht bald hier, bald da eine kleine Ausnahme, meinend, dass es doch darauf nicht so sehr ankomme, und ehe man’s sich versieht ist man mitten drin im schön­sten Schlendrian. Wer seine kleinen Schulden nicht pünktlich entrichtet, wird bald aus den grossen Schulden nicht mehr herauskommen, und wer es mit den ihm anvertrauten Pfennigen nicht genau nimmt, wird auch bald das Vermögen des1 Nächsten nicht achten. Gewiss jeder Mensch hat seine Feh­ler, aber nichts ist verkehrter, als sich mit dieser „allgemeinen Sündhaftigkeit” ausreden zu wollen. Auch das überzeugteste und herzzerbrech endste Sündenbekenntnis ist unnütz, wenn ihm nicht der Wille folgt, gerade die besonderen Fehler, die man hat, Schritt für Schritt, zu bekämpfen. Aus kleinen Unterlassungen werden die grossen Sünden. „'Wer

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