Bukarester Gemeindeblatt, 1933 (Jahrgang 25, nr. 1-53)

1933-01-01 / nr. 1

Jahrgang XXV. Sonntag, den 1. Januar 1933. Bukarester Gemeindeblatt Schriftleitung: R. Honigberger I Geschäftsstelle: Gemeindekanzlei, Str. Lutherana 12 Nr. 1 Zum neuen Jahre. Offb. Joh. 22, 20 „Es spricht, der solches zeuget: Ja, ich komme bald. Amen, ja komm Herr Jesu !“ Das letzte Wort der Heiligen Schrift, das wir zum Ausgangspunkt unserer Neujahrsbetrach­tung nehmen, spricht nicht von einem Ende, sondern von einem neuen Anfang. Der Verfasser der Offen­barung schaut sehnsüchtig aus nach dem, der da kommen soll, nach dem Heiland, und schliesst sein Buch mit dem Gebet: „Komm, Herr Jesu!“ Er verbindet auf diese Weise Gewesenes und Kom­mendes miteinander, knüpft an das, was einst war, das Künftige, das kommen soll. Er weiss, dass Ver­gangenheit und Zukunft notwendig zusammen­gehören. Die Zeit macht nirgends halt, sondern fliesst unaufhörlich weiter, Oder ist sie es, die ewig stille hält, und nur wir Menschen eilen mit unseren Ge­danken weiter ? Es gibt für uns kaum ein grösseres Rätsel als die Frage nach dem Wesen der Zeit. Aber wie auch die Antwort ausfallen mag, einen wirklichen Ruhepunkt finden wir in ihr nicht, und auch der Augenblick, da wir aus dem einen Jahr in das andere eintreten, kann deshalb nicht nur als ein Abschluss behandelt werden, sondern er be­deutet zugleich einen Neuanfang! Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft reichen sich ewig die Hand, untrennbar voneinander, ineinander übergehend, eines aus dem anderen hervorströmend in alle Ewigkeit. Alles geschichtliche Geschehen, und auch die Heilige Geschichte ist ein Beweis hierfür. Jo­hannes der Täufer, der letzte Prophet des Alten Bundes, ist zugleich der erste Prophet des Neuen Testamentes; wie seine grossen Vorfahren von der Hoffnung auf den kommenden Heiland leben, so sieht er als derjenige vor uns, der mit erhobenem Finger auf Jesus Christus hinweist, und das macht ihn zum grössten der Propheten, dass er wirklich Jesu unmittelbarer Vorläufer wurde. Und Jesus selbst! Sein irdisches Ende wurde der Anfang seiner himm­lischen Herrschaft, und diese wieder wurde der Anfang der Ausbreitung seines Reiches auf Erden. Darum kann auch die heilige Schrift, wo sie auf­hört von ihm zu berichten, nicht so tun, als sei sie an einem Endpunkt angelangt, sondern sie weist nun über sich hinaus auf das Kommen Jesu. Auch dieser Schluss ist nur ein neuer Anfang! Damit stellt die Heilige Schrift die Christenheit vor eine grosse Aufgabe: sie soll Wegbereiterin sein für das Kommen Jesu, Mitarbeiterin an seinem kom­menden Reiche! Damit aber werden wir in eine Reihe gestellt, die weil zurückreicht in die Vergangenheit; wir werden verbunden mit den besten und edelsten Menschen, die je gelebt: mit denen, die um seinet­willen alles verlassen, ja schliesslich ihr eigenes Leben für ihn dahingegeben. Wir werden Kampfge­nossen der alten christlichen Märtyrer, die um seinetwillen grösste Leiden auf sich genommen, Weggenossen jener altgermanischen Recken, die ihm als ihrem Herzog leuchtenden Auges Gefolg­schaft geleistet, Mitarbeiter eines Luther, Zwingli und Calvin, und schliesslich auch Arbeitsgenossen all der treuen Männer und Frauen in unserer Ge­meinde, die je und je sein Werk zu fördern ge­sucht Wieviel hat sich geändert, seit Jesus über diese Erde gewandert ist! Wie anders wird die Welt nach 100, 200, gar 1000 Jahren aussehen ? Wer werden die sein, die dann in unserm Gottes­hause weilen, welches werden ihre Sorgen und Gedanken sein ? Aber auch ihre Botschaft und ihr Gebet wird das gleiche sein wie das unsere: Komm, Herr Jesu! Aber der Heiland, der gestern und heute und in alle Ewigkeit der gleiche ist, wird doch zu jeder Zeit in anderer Weise kommen. „Die Welt bewegt sich“, sie ändert sich stets, und so wird sie auch Jesus stets anders sehen. Und das ist das Grosse und Herrliche an dem Heiland, dass er reich genug ist, um jeder Zeit etwas Besonderes zu sagen und sie vor neue Aufgaben zu stellen. Anders tat er sich den Jüngern, anders den Kirchen­vätern kund; den alten Germanen war er der gütige Herzog, dem Mittelalter der Himmelskönig und Richter, zu Luther kam er als der Tröster, zu den Männern der Aufklärung als der grosse Sitten­lehrer. Was hat er unserer Zeit zu sagen ? Wenn wir recht sehen, so wird sein Geist sich vor allem auswirken in den grossen Fragen der sozialen Reform und des Völkerfriedens. Gewiss, das Christentum hat es zunächst mit der Einzelseele zu tun und will diese retten. Aber Jesus selbst zeigt, dass Leib und Seele nicht zu trennen ist, dass leibliche Not auch das Seelenheil gefährden kann. Darum war er, solange er auf Erden weilte, auch für Krankheit und Not ein Heiland. Aber alle Einzelnot ist schliesslich durch soziale Verhältnisse bedingt. Willst du helfen, so setze hier mit der Arbeit ein. Mehr und mehr müssen wir begreifen, dass der Individualismus durch die soziale Idee überwunden werden muss. Uebertriebener Individualismus führt immer zur

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