Bukarester Gemeindeblatt, 1936 (Jahrgang 28, nr. 1-52)

1936-01-05 / nr. 1

Nr. 1 Jahrgang XXVIII. Sonntag, den 5. Jänner 1936. BukarcstcrGemeindcblatt Schriftleitung; R. Honigberger Geschäftsstelle: Gemeindekanziel. Str.Lutherana, 12 Jahreszeiten. Des Jahres ewiger Gang durch Zeit und Jahreszeiten will wieder winterlang dem Leben Rast bereiten. Es schneit beständig fort und deckt die weite Erde, begrabend Trieb und Wort in lastende Beschwerde. Denn Abschluss, Ruhe, Tod verängstigen die Seele, in der noch Sommer lebt, und schnüren ihr die Kehle , dass sie nun, auch verschneit, dem Schicksal es verübelt und über ihrem Leid, im Dunkeln sitzend, grübelt— bis aus dem Wurzelreich der Tiefe sich ein Hoffen aufquillend regt - - und gleich sind alle Himmel offen. Dann zittert’s, lauscht, fragt und unter weisser Decke harrt’s, wie es länger tagt, dass Frühling es erwecke.­­­Geburt und Tod sind not, damit das Aufers­tehen und Leben im Gebot, das einst erging, geschehen. Wir Menschen leiden mit und freuen uns gemeinsam; wer aus dem Reigen tritt, versieh­t und endet einsam. K. R. Psalm 103, 8—18. Dem Bewusstsein der breiten Massen ist es vielfach völlig entschwunden, dass das kirchliche Neujahrsfest lange Zeit hindurch eine rein christ­lich-religiöse Veranlassung hatte : es wurde als Er­innerung an die Taufe Jesu gefeiert. Noch Luther hielt es so. Erst später sind die hieraus sich er­gebenden Gedanken zu Gunsten jener Erwägungen aus der Predigt gewichen, die sich aus der Tat­sache des Jahreswechsels ergeben. Gewiss hat es nun seine Berechtigung auch diese mehr unser weltliches Leben betreffende Angelegenheit unter das Licht des göttlichen Wortes zu stellen. Viele unserer Mitchristen treibt ja gerade die Sorge des Alltags, die sich am Tage des Jahreswechsels viel­leicht mit besonderer Wucht meldet, in die Stille des Gotteshauses, zu andächtigem Gebet und zu heiliger innerer Sammlung. Aber noch viel mehr Menschen sehen den Jahreswechsel als eine rein weltliche Angelegenheit an und denken gerade bei dieser Gelegenheit an alles andere, nur nicht an Kirche und Gottesdienst. Die einen bringen diese Tage im ernsten Studium ihrer Rechnungsbücher zu und vergessen darüber vielleicht gar jegliches Feiern, andere wollen gerade an diesem Tage ein­mal recht gründlich ausspannen und alle Sorgen vergessen. Sei es im häuslichen Kreise, sei es im Kreise von Freunden und Vereinsgenossen, veran­stalten sie ihre ausgelassenen Feste, die oft frei­lich gar zu leicht das Gepräge wirtshausmässigen „Betriebes“ annehmen und es leider sehr häufig an Würde und Ernst mangeln lassen. Denen nun, die zur Zeit des Jahreswechsel das Bedürfnis nach innerer Sammlung empfinden, ein Wort des Tros­tes und der Ermutigung zu sagen, das soll in fol­genden versucht werden. Was ist es, was uns in der Zeit des Jahres- Wechsels am meisten bewegt ? — Es ist einerseits der Gedanke an die Flüchtigkeit der Zeit, die wir gerade dann am stärksten empfinden, wenn wir ge­­wissermassen mit eigenen Augen das Dahinschwin­den eines Jahres mitansehen müssen, das nun un­widerbringlich dahin ist; und es ist andererseits das Gefühl, das uns beim Nachdenken über die Frage beschleicht, ob wir die uns gegebene Zeit auch recht benützt haben, ob wir uns nicht selbst durch unsere Schuld um ihren Segen betrogen? Ja, das ist es, was wir am Neujahrstage be­sonders lebhaft empfinden: die Flüchtigkeit der Zeit. War es nicht vor kurzem erst, da wir das neue Jahr begrüssten ? Und nun: kaum gegrüsst, ist es auch wieder vorüber ! Die Frommen des Alten Testamentes hatten hierfür ein besonders starkes Gefühl. Unsere Zeit, so sagen die Psalmensänger, gleicht dem dahin­eilenden Winde, dem reissenden­­ Strom, dem raschen Flug des Vogels, sie ist wie das rasch verdorrende Gras, wie der verfliegende Nebel, wie ein flüchtiges Schlummerstündchen. Und ganz ähn­lich urteilen die Dichter alter und neuer Zeit. Sie sprechen vom sausenden Webstuhl der Zeit, sie vergleichen das Leben mit dem niederstürzenden Wasserfall, die Menschen erscheinen ihnen wie Alltagsfliegen, die am Abend schon tot sind. Je älter der Mensch wird, um so stärker tritt ihm das vor Augen. Ich denke an jenen alten Mann, der an seinem 80. Geburtstag sagte : „Als ob es gestern gewesen wäre, so kurz dünkt mich die Zeit meines Lebens“. — „Wie gar nichts sind doch alle Menschen !“ Wozu sich mühen und auf­regen ? Welchen Sinn hat es ? Das Leben ist wie ein Wölkchen — wird bald vorüber sein. Auch unser Leid — es dauert nicht ewig. Drum lasst das Trauern! In solchen Überlegungen liegt sicher ein gros­ser Trost. Paulus meint etwas ähnliches, wenn er von unserer Trübsal spricht, „die zeitlich und leicht ist . . .“. Wie lange noch, so wird sie vorüber sein und mit ihr werden auch wir vergessen sein ! Wo­zu also sich aufregen und sorgen ? !

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