Der Nachbar, 1910 (Jahrgang 62, nr. 1-47)

1910-01-02 / nr. 1

neben sich auf die Knie und schlang den DiriJt fest um ihn —dann be­tete sie mit klarer,ruhiger Stimme und lobte den Vater im Himmel der ihr geliebten,verlorenen Kin­d nach Hause gebracht. Leise verließen die Leute das Zimmer, auch deine Eltern gingen hinaus — Fri war allein mit Vater und Mutter! Das war ein köstlicher Silvesterabend, und nun weißt du, weshalb wir immer noch Lukas 15 seien!" Es war wieder ganz still, Marie fchaute träumend in die verglimmende Glut des Ofens. Ihr mars, als habe sie einen Blick tun dürfen in die Tiefe und Herrlichkeit der Liebe Gottes — ba­hnrrschte draußen der Schnee unter den Schritten der heimkehrenden Kirchgänger. Mit einem leisen Seufzer erhob sie sich und entzündete die Kerzen am Baum — dann holte sie die alte Familienbibel und schlug Lukas, Kapitel 15 auf, während die Glocken laut und feierlich zu den Hütten und Häusern hinüberläuteten. « * * * 9 % er Adhon aus dem Altertum sind uns Sammlungen­­ von Aussprüchen berühmter Personen überliefert, RS­A und heutzutage ist die Zahl der Bücher Legion, in­­ denen „Geist aus Goethes, Schillers, Lessings usw. Schriften“ oder goldene Worte (einige sind unechtes Gold) anderer hochangesehener Männer sind Frauen mitgeteilt werden. Hier sollen einmal Menschen zu Wort kommen, die gar nicht berühmt sind, die aber noch das Herz auf dem rechten Fleck gehabt haben, nämlich auf den Grund gesenkt haben, außer­dem kein anderer gelegt werden kann. Die meisten, deren Aussprüche hier aneinander gereiht werden, hatten keinen Namen, wenigstens weiß niemand ihn anzus= geben; aber ihre Namen stehen geschrieben im Buch des Lebens.*) Von der Arbeit im irdischen Beruf sagt einer, den ich ausnahmsmeise mit Namen nennen kann, der württem­­bergische Schulmeister Kolb. Unser gewöhnlicher Beruf muß unser eigentlicher und bester Gottesdienst sein. 34 kann meinen Beruf wichtig oder unwichtig machen, je nachdem ich mich zu ihm stelle. Wenn z. B. ein Missionar seinen Beruf gedankenlos treibt, und ein Bauer einen Wagen Dung betend aufladet — welcher­ treibt seinen Beruf am besten? Ohne Zweifel der legtere. — Direktor Ziegler von M­ilhelmsdorf pflegte seinen Knaben gern folgende Ge­­schichte zu erzählen: Ein mohammedanischer Diener trat eines Abends zu seinem Herrn ins Zelt. Dieser fragte ihn: Hast du dein Kamel angebunden? Nein, war die Antwort, aber ich habe es dem Schuß Allahs (Gottes) empfohlen. Darauf befahl ihm sein Herr: Geh und binde es zuerst an und dann befiehl es dem Schuß Allahs. Aber der Erstgenannte hielt neben der Arbeit auch das Gebet hoch, so daß er sagte: Lieber wollte ich mir das Essen und das Atmen verbieten lassen als das Beten. Von der Gebetsschule des Cchristen gebrauchte er das treffende Bild: Das Gebet ist anfangs wie ein Blumpbrunnen, dann wie ein laufender Brunnen und endlich ein Springbrunnen. Einem Bumpbrunnen gleicht es, wenn man nur nach dem Sprichwort handelt: Not lehrt beten, einem laufenden Brunnen, wenn man der Weisung des Heilands folgt, daß man allezeit beten und nicht laß werden soll, ein Spring­­brunnen aber ist’s, wenn der heilige Geist einen treibt und das Herz in Leben und Danken überquillt. — Eine fromme Weingärtnersfrau­ sagte einst zu Albert Knapp: Gehen " Sie, Herr Stadtpfarrer, wenn ich zwischen meinen Kühen auf die Streu niederkniee und so ganz mein Herz in Gottes Schoß ausschütten darf, dann wird mir mein Stall zu einem Paradies. — Nicht nur ein Stall, sogar eine Kaserne kann durch das Gebet in ein Paradies verwandelt werden. Ein Rekrut wurde von einem gottseligen Freunde gefragt: Wie geht's? D schlecht, ermwrderte er, das ist ein Höllenleben in der Kaserne, den ganzen Tag geplagt und mit Flüchen traktiert, und überall nichts als ein maltes, rohes Wesen. Wenn ich nur wieder davon wäre! — Hast du denn den Heiland noch nie gebeten, daß er dich wieder frei macht? fragte der andere. Der Soldat schaute zuerst sehr verwundert drein, versprach aber dann, damit einen Bersuch zu machen. Nach längerer Zeit begegnete er dem frommen Freunde wieder. Dieser bemerkte, daß er viel fröhlicher aussah und redete ihn an: Nun, du scheinst mir jeßt recht vergnügt zu sein; hat dein Beten gewußt, wirst du bald frei? Nein, antwortete der Soldat, von der­ Kaserne werde ich nicht frei, aber frei von Sünden bin ich geworden, denn ich habe jet meinen Heiland gefunden und seitdem bin ich gern Soldat. Der Schulmeister Kolb soll hier mit einem Wort von der Heiligung folgen: Als ich mich in meiner Jugend bekehrte und im Feuer der ersten Liebe stand, dachte ich, wenn das so fortgeht, werde ich bald am Ziel meiner Boll­­endung stehen. Aber es ist beim Bekehren wie beim Brunnengraben: zuerst.. kommen die weichen, lockeren Erdschichten, dann stößt man auf Felsgestein, das nur dem Sprengen mit Pulver und dem Brecheisen weicht. Wir sind aber keine bloß „lackierte“, sondern wirkliche Sünder; die Sünde ist uns nicht bloß angeflogen oder anerzogen, sondern angeboren. — Ein anderer Schulmeister, Rullen, gebrauchte folgendes Bild: Ein Jäger hatte einen Fuchs gefangen und gezähmt. Er brachte es dahin, daß der Fuchs mit den Gänsen aus einem Gefäß fraß. Aber die Magd mußte immer mit dem Stecken dabeistehen; sobald sie dem Fuchs den Rücken kehrte, hatte er eine Gans am Salfe. Dann mußte sie ihm mit dem Stecken auf den Kopf schlagen, damit er sein Opfer wieder los ließ. So müssen auch wir den ganzen Tag auf der Wache stehen und unsern alten M­enschen h­üten, damit er uns keine Tücke macht. Aber von Stömmelei wollte er nichts missen. Er schreibt einmal: Eine frömmelnde Erziehung fürchte ich fast mehr als Bernachlässigung im Geistlichen — und er pflegte das Beislein anzuführen. Wie mancher Tor wird da gefällt, wo er Bekehrungswege stellt. Als sein Sohn ihm schrieb, er habe evangelisiert und manche Schafe in den Schafstall getrieben , äußerte er sich­ folgendermaßen: Es wäre mir lieber, er hätte geschrieben, daß er seinem Herrn einen Tag Holz gespalten habe; ich trage Sorge um Aussprüche unberühmter Personen.MW Gesellsc., *) Die hier gegebenen Aussprüche finden sich neben vielen ähnlichen in dem empfehlenswerten Buch: Fr. Baun, Das schwäbische Gemeinschaftsleben (Stuttgart, Ev. geb. 2.50 44). | d 4 vi

Next