Der Nachbar, 1915 (Jahrgang 67, nr. 1-52)

1915-01-03 / nr. 1

nun ist es erfüllt. Aber freilich nicht, wie sie es erwarteten. Sie erhofften, es sollte erfüllt werden vor ihren Augen, in irdischer Bracht, in weltlicher Herrlichkeit, daß sie es sahen. Nein, sagt der Herr, vor euren Ohren. Durch das Wort, das ich verkündige, und die werden es erleben, die meinem Morte gläubig zufallen. Ganz ebenso ung­weideutig ver­­kündet er, daß das Reich des Messias ein geistliches Königreich sein soll, das un­wendig in ihnen ist, ein Reich der Glaubenskraft und der Rettergnade und der Wahrheit. Heute! Ach nein, den Tag kann er nicht meinen, Das wäre zu wenig. Die ganze Zeit hat er im Sinne, die mit seiner Verkündigung beginnt, die ganze Gnadenzeit, die dem Volke gegeben ist, da er unter ihnen wohnte und redete vom Reiche Gottes, bis an sein Kreuz, da es erfüllt ward: ich bin dein Heiland, bis auf den Tag, da er, lebendig von den Toten auferstanden, aufgenommen ward gen Himmel, und siget zur Rechten Gottes, mehr, viel mehr. Dies heute umfaßt die ganze Weltzeit des Neuen Bundes. Es heißt heute, solange vor unseren Ohren diese Schrift erfüllet wird. Heute heißt es, solange die angenehme Zeit Gottes, da er uns sucht und annimmt, währt. Und auch dies beginnende Jahr wird von diesem „heute“ umfaßt, es ist ein Sandkorn in der zinnenden hr dieses großen Gottestages. Neujahrsgemeinde, vor dir liegt ein Jahr. Kein Nensch weiß, was es bringt. Dein Sorgen ändert nichts, dein Wiünschen auch nicht an dem Inhalte des Geschicks. Er meint, das kommt. Aber das sollst du wissen, was es auch bringen mag: es will diese Schrift erfüllen vor deinen Dichten. Die Jahre wechseln, aber seit dem ein Jahr war, in dem die Engel fangen in Bethlehem, hat jedes Jahr denselben Heiland. Er ist bei dir, daß er dir helfe. edes Jahr will ein Gnadenjahr sein in doppeltem Sinne, daß du es es von Gottes Gnade hast und daß du Christi Gnade darin hast. Wenn du dich arm fühlst an Gerechtigkeit und Reinheit, er will dir das Evangelium predigen, daß das Himmelreich dein sein soll, weil er Sünde vergibt und die Niffetat erläftet den übrigen seines Erbteils. Binden dich die Ketten des Fleisches, mit seinem Wort will er die Gefangenen erlösen, daß sie frei werden, ihm zu folgen. Drückt dich Leid und zerschlägt dich das Leben, sein Wort will dich heilen, kann dich heilen, daß du mutig und freu­=­dig wirst. Siehe, öffnen will er dir die Augen, daß du sehest die Wunder seiner Gnade in seinem Wort, und wäre es dein lektes Erdenjahr, so sollst du erleben, daß es das angenehme Jahr des Herrn ist, in dem er dich annimmt zu seiner ewigen R­uhe. Io weiß nicht, was das Jahr bringt. Aber daß es dies bringen wird, die Bewährung seiner Treue, die Er­­füllung aller seiner Berheigung, das weiß ich gewiß. Durch sein Wort wird es geschehen, allen, die es hören und glauben. Und so grüße ich die Nachbargemeinde mit dem alten Gruße: Gott zum Gruß und den Herrn Gesum Christum zum Trost. Daß auch das si erfülle, dazu segne Gott dies Jahr! Amen. A­m Atelier des Kunstmalers Kurt Hofer war es still, nur eine liege summte noch am Fensterglas. Doch bald war sie milde vom vergeblichen Ringen =e nach Freiheit, ja, träumend im Winkel, und nun war es ganz still. Da lugte vorsichtig ein Sonnenstrahl durch die Halle vorgezogenen Vorhänge und sprang Reck in den gegenüber­­liegenden Winkel. Hier beleuchtete er einige italienische Straßenbilder, die in keinem echten Naseratelier fehlen dürfen, strich über verschiedene Landschaftsskizzen und spielte einem alten, faltigen Männergesicht um die Nase, bis es zu niejen schien. Dann hüpfte der lose Schlingel weiter und machte sich mitten im Raum an der Staffelei zu schaffen. Hier stand ein Bild, aber es war zum Bes­­tand eingepackt, und alle Neugier half nichts, die Hülle wal zu fest. Da glitt der Sonnenstrahl seitwärts auf den Tisch. Hätte sich aber fast erschrocken, denn er fing sich in den blonden Locken eines jugendlichen Hauptes und zitterte auf dem schwankenden Untergrunde. Es mußte der Künstler selber sein, der die Arme auf den Tisch gelegt, sein Haupt auf diese gebettet hatte und nun schlief. Nein, stören mollte der gute Sonnenstrahl ihn nicht, darum schlüpfte er wieder zum Senfter hinaus, und nun wars im Atelier Dämmerig still, ganz still. Hord, da nahte ein leichter, trippelnder Schritt, und ein feines Stimmchen rief an der Tür: „Mach auf, Baterchen, mach auf!“ Aber ein anderer Schritt dameilig daher, und eine weiche Frauenstimme sagte: „Nicht, Trudchen, das Baterchen arbeitet und will nicht gestört werden.“ Dabei öffnete sich doch eine Türspalte, wo zwei helle Augenpaare hindurch­­lugten, und jet war kein Halten mehr. Das Trudchen flatterte auf den Schläfer zu: „Baterchen, Baterchen, die Kate hat ein ganz feines Kapenkind mit zuen Augen und einem roten Mäulchen. Komm flink und sieh es.“ Der Künstler war erwacht und hatte sein Kind aufs Knie gehoben und geküßt. Aber die schlanke, junge Frau strich ihm die Haarfülle von der Stirn und sah ihm besorgt in die Augen. DVBerträumt genug s­ahen sie aus, doch diesen Leidenszug hatte sie nicht aus Traumestiefen herausgeholt. „Mein Kurt, du hast gar nicht geschlafen,“ sagte sie dann, „gegrübelt und gesorgt hast du wieder. Das kann so nicht weiter gehen.“ Trudchen hatte unterdessen ihr Mäulchen weiter laufen lassen über das niedliche Weltwunder von Kapenkind, und um es weiter zu belauschen, glitt sie vom Knie und Hurchte hinaus. Die Frau rückte den nächsten Stuhl an ihres Mannes Seite und schmiegte sich an ihn. „Du arbeitest ums täg­­­lich Brot, mein Liebter, das tut einem Künstler nicht gut. Du mußt das Alltägliche einmal ab­werfen und hinaus. Hörst du Kurt, du mußt eine Reife machen.“ Ein schmerzliches Lächeln irrte um feinen M­und. „Reifen? Soll ich euch das­­ lekte Brot vom Munde nehmen?“ „D, ich habe noch genug für uns, und vielleicht reife ich auch in der Zeit.“ „Wohin?“ fragte er urgewöhnlsch. Elternhaus oder Geschwister?“ „Hast du et­wa ein Bersichert. Erzählung von M. Inger (M. Sefjen). (Machdrut verboten.) :

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