Der Nachbar, 1915 (Jahrgang 67, nr. 1-52)

1915-09-19 / nr. 38

IRA Zum 16. Sonntag nach Trinitätig. Matth. 11, 28. Rommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquiden. Ran irrt wohl nicht, wenn man sagt, daß in der­­ N K ganzen Christenheit dies Wort unseres Hei­ 2­landes als seiner schönsten eines, wenn nicht als­­ das schönste angesehen wird. Wie klingt es sanft und liebevoll, so recht aus der Tiefe eines Erbarmens heraus, das mit allem Leid und Weh und Jammer der Welt ein herzliches Mitgefühl hat, und zugleich aus der Fülle einer Macht und Weisheit heraus, die für jede, auch die tiefste und schwerste Wunde, die das Leben einer armen Menschenseele geschlagen hat, Heilung und Linderung zu geben vermag. Es kann einem sein, wenn man es hört oder Liest, als läße man wieder auf seiner Mutter Schoß und hätte ihr sein Leid geklagt, und sie hätte einen freund­­lich an sich gezogen, und einem gut zugesprochen und die Augen getrocknet, und nun spürt man kaum noch etwas von den Schmerzen, die man gehabt, und getröstet schläft man an ihrem Herzen ein. Aber, [eben Freunde, das Wort ist nicht bloß nach dieser Seite hin wunderbar. Weil sie so ergreifend und freundlich ist, übersieht man leicht die andere, die mindestens ebenso wichtig ist, ja, ohne die die­ V­erheiung eigentlich gar keine Kraft hat. Vielfach haben allerlei Ausleger darauf aufmerksam gemacht, daß die meisten Aussprüche, in denen der Herr selber seine Göttlichkeit bekennt, im Johannes­evangelium sich) finden. In den ersten drei Evangelien seien sie mindestens sehr selten, wenn sie nicht sogar ganz fehlten. ‚Hier sieht man, wie ungerecht das ist. Wen ruft denn dieser Mann in den Gefilden Israels zu sich? Alle Müh­­­seligen und Beladenen, alle­s man denke sich das aus! Und wenn er bloß an die gedacht hätte, welche zu seiner Zeit im heiligen Lande lebten, welche Schar und welche Verschiedenheit der Last! Die Sünder, die unter ihrer Rast der Sünden nirgends Ruh und Rettung finden, die Sorgenbelasteten, welche unter der Mühsal ihres Lebens, ihrer Arbeit und ihrer Not tagaus, tagein, sich schleppen müssen, die Heimgesuchten, die vom Kummer ihres Tages oder der Bosheit der Menschen oder den Schmerzen des Siechtums und der Krankheit gequält sind — mer redet alles aus? Lebt auch irgend ein Mensch, der nicht irgend­­wie Mühsal oder Laft, große oder kleine, lange oder vor­­übergehende zu tragen hat? Und er hat doch alle seine Worte und Zusagen, wenn auch zuerst natürlich für sein Volk, aber doch für die ganze Welt gegeben. Es gilt doch auch für alle Mühseligen und Beladenen unserer Zeit. Für unsere Streiter draußen im Felde, die unter schmersten Entbehrungen täglich in Not, stündlich in Gefahr, dem Tode ins Angesicht sc­hauen. Für unsere Vermundeten, die mnochen- und mondenlang aus dem Schmerzenslager der Lazarette sich­winden. Für die Witwen und Waisen, die den Heimgang ihrer Geliebten mit bitteren Tränen be­­klagen, und die doch auch aller Stolz, daß sie ihr Liebstes fürs Vaterland dahingegeben haben, nicht von dem Schmerze erlöst, daß sie es hingegeben haben und nicht mehr besißen. D, die Welt der Mühseligen und Beladenen! Sie ist immer groß; in Reiten, wie wir sie durchleben, kommt es einem vor, als wäre sie ebenso groß, wie je M­enschenunwelt überhaupt. Und da steht nun der Eine, der Einzige und Sagt:

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