Kirchliche Blätter, 1905. Mai -1906. April (Jahrgang 10, nr. 1-52)

1905-05-03 / nr. 1

3 Ar, OR Sammer und nichts mehr unter der Sonne.“ Es ist, wie wenn das als Urteil über die schöne antike Welt geschrieben wäre, die bei aller Kunst und Weltweisheit der Griechen, bei aller Macht der Neiche der Welt, die der römische Adler beherrschte, bei allem Genuß der ins Angemessene gesteigerten Kultur doch in innerer Verzweiflung enden mußte, weil sie den Christengott, den Gott der Barm­­herzigkeit nicht gefunden hatte. Denn „Not lehrt beten“ wie den einzelnen, so auch die Geschlechter­ der Sterblichen, die Weltalter und die Zeiten auf Erden. Die Not des Lebens ist aber immer da. 8 kommt nur darauf an, den Menschen dieselbe stets im Bewußtsein zu erhalten Dann vergessen sie auch das Beten nimmermehr. Die Not des Lebens hat ihren Grund in der Un­­volk­ommenheit der Menschen, die in besonders schweren Lagen zur Ohnmächtigkeit wird. Der müchte einen unzu­­länglichen Begriff von seiner Bestimmung und den Pflichten seines Berufs, dem Zweckk seines Daseins haben, der­­­­ niemals empfunden hat, wie ihm die Kraft mangelt, wie er so selten voll und ganz dem entsprechen kann, was von ihm gefordert ist. Er gehört zu den sehwersten innern kämpfen, wenn der Mensch merkt, daß er den Mangel einer Gabe seiner Natur auch beim besten Willen nicht überwinden kann. Das ist ein Verhängnis, härter och als ein unheilbares körperliches Leiden, dessen Ursache dem Organismus eingepflanzt ist und dur­ f eine Kunst be­­seitigt werden kann. Dean sehe die Kulturfortschritte an, die grade dann, wenn sie sich auf den glänzendsten Bahnen entwickeln, so leicht auf der andern Seite auch die tiefsten Schlagschatten zeigen, aus denen Übel mannigfaltiger Art wie hohläugige Gespenster hervorgingen. In den prunk­­vollsten Gemächern oft die entjeglichste Verflachung eines leeren Scheingeflunfers! Im Gefolge der mächtigsten Ent­­faltung der Menschenkräfte und Menschenwerte, wie sie sie im Großstadtleben findet, oft das grauslichste Elend der Armut, der tiefste Schmuß de Lafters! Süße Ruhe entnervt und verweichlicht. Genuß in Üppigkeit wird zum Ciel und zum Überdruß. Ach, wer wollte ver­­ständnis- und teilnahmg­ o8 vorübergehen an allen den schweren Schäden, die in der allenthalben sich offen­­barenden Unvoll­ommenheit der Meenschenwerte liegen ? Dazu kommt das Schicsal, dem wir mit unserer Macht oft völlig hilflos ausgeliefert sind, das uns mit seinen niederschmetternden Schlägen, ohne nach unserm Willen zu fragen, unter seine Gewalt beugt. „Der Übel größstes aber ist die Schuld,“ die einmal begangen nicht mehr ungetan gemacht werden kann und durch der Neue bittere Tränen gebüßt und gesühnt werden muß. Ja, wo wäre nicht Not des Lebens? In tausendfachen Gestaltungen, zentnerisch ver­haftet sie allüberall auf den Menschen­­geschlechtern, und jeder muß sein Teil davon tragen. Da nun lernen wir beten, verlangen wir nach unserm Gott, und das wird, wie es von Anfang an gemesen ist, auch so bleiben in alle Ewigkeit. Hier kommt er nun darauf an, was für einen Gott wir haben, was für einen Trost wir uns in der Kraft unseres Glaubens von ihm versprechen können. Die gemeine Anschauung der Welt, die da beherrscht ist von dem Bewußtsein der getrennt einander gegenüber stehenden Wesen in ihrer individuellen Erscheinung, kann uns da im besten Fall einen Gott der Gerechtigkeit an­­preisen, nämlich einen Gott, vor dem wir, wenn wir nie vollkommen sind, eben unvoll­ommen bleiben, während er in seiner Volk­ommenheit sich in seiner heiligen Höhe von uns geschieden hält, der, wie es die Gerechtigkeit erfordert, mit eherner, strenger Gewalt über uns als ein elendes, niedriges Volk herrscht, wenn wir gefehlt und uns ver­­gangen haben, Rache dafür heirscht und die Strafe fordert, wenn wir ihn aber mit Opfern versöhnt und seine Gunst erfauft haben, wie es wieder die Gerechtigkeit verlangt, und seine Gnade erweist, ohne daß wir deshalb anders ge­­worden wären, als wie wir waren, und Was wir sind. Das aber ist nicht der ristliche Gott. Jesus Christus hat uns den Vater im Himmel verkündigt, der seine Sonne aufgehen läßt über die Bösen­ und über die Guten und regnen läßt über Gerechte und Ungerechte. Er hat uns den Vater gepredigt, der mit dem verlorenen Sohn nicht nach Gerechtigkeit handelt, wie derselbe es verdient hat, sondern sein wiederkehrendes Kind mit Freuden in die Arme schließt. Ex unser Vater, wir seine Kinder. Bei aller unserer Unvollkommenheit will er uns doch als gleichen Wesens mit sich selbst anreden. Sind wir wie die uns mindigen Kinder, die in ihrem Unverstand so viel irren und fehlen, so wendet er sich doc niemals lieb[los von uns ab. Mit heiligem Schmerz sieht er unsere Torheit und Hilft­ung zurecht. Und muß er uns auch wehe tun, seine Strafe ist unsre Besseiung. Und shidt er uns Leiden, so “sollen seine Prüfungen uns doch nimmermehr zweifeln lassen an seiner ewigen Treue und Gnade. Er will ung mit seiner Stärke beistehen in allen den schweren Aufgaben unseres Lebens und unseres Berufs. Er will bei ung bleiben und ung zur Seite gehen in allem Wandel, auch dem furchtbaren Ernft des Schiesals. Und wo die Toten ver­­zweifeln, das Sünderherz troßt, Reue uns die Seele zerreißt, da bietet er Erlösung und Errettung an. „Lieh mir dein Herz, mein Sohn“, fehre zu deinem Vater heim, ich tilge durch die Buße deine Schuld, da findest du Frieden für deine geängstete, in Qualen­ umherge­­worfene Seele, Ruhe für dein Gewissen, Liebe, ewige, treue Vaterliebe. Nach diesem Gott der Barmherzigkeit kremmt unser Herz, wenn wir die Not des Lebens erfahren haben, sei. 8 an uns, sei e8 an anderen. Und mit einem von heißem, sehnsüchtigem Verlangen überquellenden Gefühl beten wir, daß wir uns ganz ihm hingeben und an ihn anschließen möchten, um mit ihm und von ihm die unendlichen Kräfte zu empfangen, die da in seinem Weiche der Ewigkeit wirken

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