Kirchliche Blätter, 1918 (Jahrgang 10, nr. 1-52)

1918-01-05 / nr. 1

r Landeskirche viele vom Boden evangelischer Theo­­logie,­vor allem vom Evangeliums selber entfernt, daß man selbst im freiesten Bekenntnis zu Sevis Christus und dem Christentum einen erstarrten Dogma­­tismus witterte. Das aburteilende Schlagwort „or­­thodor“ beherrschte noch Jahrzehnte lang unire Sereife. Als Narrenschelle wurde es jedem von uns angehängt, der es wagte, Zesum Christum den Gekreuzigten und Auferstandenen, den Heiland der Sünder zu versün­­digen und aus allen­ Umsrustungen heraus die Kraft des Gottes Wortes an das Licht zu bringen. In unseren Heinlichen, engen Verhältnissen war auch dies schon ein bescheidenes Martyrium. Aber der Mut der Ueberzeugung und die Besonnenheit der Arbeit hat durchgeholfen. «­­Die neue Kirchenverfassung,die gerade um die Hälfte des Jahrhunderts in unsre Gemeinden eintrat, brachte ein gewisses Leben hervor. Weitere Kreise der Gemeinde wurden in deren Vertretung und Ver­­waltung hereingezogen. Die Zahl der Presbyter und zumal der Gemeindevertreter ist ja fast übergroß, auch­ hatte das Beamtentum als solches in der Kirche nicht mehr zu regieren. Dadurch­ trat der Pfarrer auch im Gebiet der Verwaltung an die Sprge. Unleugbar erwecke die neue Verfassung größere Aufmerksamkeit und Zuneigung für die kirchliche Gemeinschaft. Die breite demokratische Grundlage der kirchlichen Re­­gierung entsprach dem Zug der Zeit, die im übrigen dem platten Liberalismus und vom nüchternen Man­­chestertum beherrscht war. Aber vertieft hat Die neue Verfassung das Kirchliche, zumal das religiöse Leben noch nicht. Auch­ das schönste und zweckmäßigste Gefäß bleibt nur ein Gefäß. Der Inhalt macht’s ! Diese Zeit Hatte no­­r ein Verständnis für die Tiefen der Religion und für neue Formen evangelisch-christ­­liicher Gemeindepflege. Wenn irgendwo und irgendwie Winde oder Anregungen dieser Art auftauc­hten, z. B. der Hinweis auf die wunderbare Arbeit der Innern Mission, so begegneten sie in den Gemeinden ab­­wehrendem Lächeln. Man woitierte hinter derlei Wünschen Rück­ritt, Mudertum, geistliche Herrschaft. Man begnügte sich mit der Fürsorge für den Ver­mögensleib der Kirche, für die Erhaltung und Er­­weiterung der nationalen Schule, für Einrichtung­­ etlicher Zweige humanitärer Wohlfahrtspflege. Das weite Gefäß unsrer Kirchenverfassung kann aber, wie die kommenden Zeiten es bezeugen werden, größern Inhalt fassen! — Um die Wende des Jahrhunderts bricht auch für uns die neue Zeit an. Wir stehen erst auf ihrer Schwelle. Zunächst erhält unsre Predigt und erhalten unsre Gottesdienste wieder evangelischen Inhalt. eiu Persönlichkeit wird wieder lebendig und tritt in die Mitte der Gemeinde herein. Die Macht der Größe Sesu beginnt aufs neue sich zu offenbaren. Wo aus warmem Herzen gepredigt und gelehrt wird, sammelt sie allmählig die Gemeinde wieder um Kanzel und Altar. Nicht Orthodorie, nicht Pietismus, auch nur modernisierter Nationalismus oder Intellektualismus ist’s, was wir bieten. Von der O­rthodorie der alt-­ protestantischen Zeit haben wir die Bedeutung der Lehre, vom Pietismus die Bedeutung innerlichen Lebens, vom Nationalismus die Bedeutung wissen­­schaftlich-vernünftiger Beweiskraft gelernt. Darum suchen wir auf wissenschaftlicher Grundlage, aber aus den Tiefen der von Gott gepachten Seele unsre Stellung zum Heiland. Aus dem Bewußtsein der eigenen Sünde und der Wolfssünde senden wir den Hilferuf zu dem, der da spricht: „K­ommet her zu mir Alle, die ihr mühselig und beladen seid.” Aus der Zerstreutheit der nach Brot und Genuß haftenden Welt sammeln wir die Seelen hin zu den Höhen des Ewigen und Unsichtbaren, Hin zu Gott. Aus den Höhlen der Eigensucht führen wir die Menschen heraus in den Sonnenrchein der barmherzigen Liebe, aus der Beschaulichkeit selbstgenügsamer Stille heraus auf das weite Feld tätigen Wirkens für Gemeinde und Bost im Dienste Jesu Ch­risti. So wird unsere Predigt und unsere geistliche Arbeit tiefer, inniger, eindringlicher. (Schluß folgt.) Luther und Calvin. In einem vom 11. Mai 1544 datierten Brief Bittet Calvin Melanchthon, er möge Luther veran­­lassen, von seiner Heftigkeit gegen Zwingli abzu­­lassen. Fromme und gelehrte Männer müsse man sanfter behandeln. Aber nie möge man aus dem Auge verlieren, was Luther für ein großer Mann sei, welche bewunderungswürdigen Eigenschaften ihn zieren, welcher Mut, welche Beharrlichkeit, welche Ge­­ihietichkeit und Gewalt der Lehre ihm zu Gebote stehen, um das Reich des Antichristen zu vernichten und um die Erkenntnis des Heiles zu befördern. ch sage er und habe es schon oft wiederholt, daß selbst, wenn er mich einen Teufel nennte, ic do nicht aufhören würde, ihn Hoch zu srägen und in ihm einen glorreichen Diener Gottes zu erfennen. (S. Calvd. W. B. Xl., ©. 774.) Zu dieser Zeit befanden si Die Reformierten Frankreich in sehr bedrängter Lage. Sie mußten nicht, ob sie die Zeremonien der römischen Messe mitmachen oder ihr schönes Vaterland verlassen und auswandern sollten. Zu dieser Not wenden sie si an Calwin um Not und bitten ihn zugleich­ von Luther ein Gutachten einzuholen, damit sie endlich­ aus ihrer schwankenden Lage herauskämen und zu einem festen Entschluß gelangten. Calvin schwantst zuerst selbst, da ihm ein zuverlässiger Bote fehle, der auch der fremden (deutschen) Sprache mächtig sei. Vor 20 Tagen könne ein Bote zu Pferde nicht nach Wittenberg kommen, vor zwei Monaten kaum nach Genf zurückkehren. Auch sei sebr teure Zeit, er selbst habe sich schon zum­­­orgen genötigt gesehen. Bald darauf sagt er jedoch zu und schreibt am 20. Januar 1545 den bekannten herrlichen Brief an Luther, dessen Ueberschrift lautet: „Dem ausgezeichneten Hirten der rätlichen Gemeinde, Doktor Martin Luther, meinem hochver­­ehrten Vater”.

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