Secession ( 2001)

RÓZA EL-HASSAN 1. Der Karneval und seine dialogischen Formen (1928-1931) Eines Abends treffen sich die Sammler Zulonbin und Antvertjejew. Zulonbin ist ein Lehrer für Holländisch, der alles sammelt, was er sich leisten kann: Etiketten von japanischen Streichholzschachteln, Bleistiftstummel; er kategorisiert sogar Fingernägelreste nach Ort und Zeit und nach den Personen, von denen sie stammen. Antvertjejew wiederum sammelt Träume und kann damit sogar Geschäfte machen. Ein anderes Mitglied dieser Gesellschaft forscht nach erotischem Kitsch. All diese Charaktere entstammen den Romanen Garpagoniada und Bocksgesang von Konstantin Vaginow. Es sind aber keine rein fiktiven Personen, vielmehr gibt es für die Romanfiguren in der Kunstszene von St. Petersburg reale Vorbilder, deren Charakterzüge den Zeitgenossen erkennbar wären. Hinter der Figur des Philosophen Andrijewskij erscheint der Theoretiker Mihail Bakhtin. Er spielt sowohl innerhalb des Romans als auch außerhalb des fiktiven literarischen Raumes eine wichtige Rolle: Was in Bakhtins Theorien als karne­valistisches Realitätsmodell beschrieben wird, bekommt bei Vaginows Romangestalten, die in den Straßen und Woh­nungen der Stadt umherstreifen, eine direkte Ausdrucksform. Bakhtin analysiert in einer seiner frühen Schriften die griechische Satire als literarische Gattung, indem er die dialogische Natur der Wahrheit hervorhebt.1 Diese Theorien generieren in dem Roman Garpagoniada neue literarische Formen. Durch den dialogischen Aspekt verschmelzen die Reste jener utopischen Perspektiven, die in den 20er Jahren in St. Petersburg überaus präsent waren, nicht zu einer vereinheitlichten Anti-Utopie, sondern schaffen stattdessen eine kohärente Form der dialogisch-karnevalistischen Montage. 2. Ninety-five among the thousand forms of cannibalism and anthropophagia (1998/1928) Bei der Biennale von Säo Paulo im Jahr 1998 verwendete Paulo Herkenhoff nicht das gebräuchliche Wort „Dialog“ als Stichwort, sondern die Metaphern gegenseitiger Einverleibung „Anthropophagie und Kannibalismus“. Er berief sich auf Oswald de Andrades Manifesto Antropofago von 1928. Künstler der brasilianischen Avantgarde kamen bei der Analyse ihrer Identität zu dem Schluss, dass es Kulturen ge­geben hat, die eine symbolische Praktik des Kannibalismus betrieben, d. h. die Einverleibung der Werte des anderen, zugunsten der Schaffung eigener Werte. Die Kuratoren dieser Biennale strebten eine Neuinterpretation des Begriffs „Anthropophagie“ an und verschickten an die Teilnehmer eine lange Stichwortliste: „Ninety-five among the thousand forms of cannibalism and anthropophagia“. Die Stichworte bezogen sich sowohl auf politische Praktiken als auch auf zwischenmenschliche Interaktionen auf den Gebieten der Kunst und Psychologie. Als kuratorisches Konzept erwiesen sie sich als geeignet, um eine Ausstellung hervorzubringen, die kohärenter war als die meisten Megaveranstaltungen oder Biennalen. 3. Die Verbreitungsmechanismen von Ideen: Merne oder Epidemien (2000) Die dritte Quelle, die ich hier angeben möchte, bezieht sich auf den ungarischen Psychologen Csaba Pléh. Der Artikel2 ist im Juni dieses Jahres in einer Zeitschrift für soziologische Studien erschienen. Er spricht aus der Sicht der kogniti­ven Psychologie und der Soziologie darüber, was mit jenen kulturellen oder kognitiven Inhalten geschieht, die ein­verleibt oder ausgetauscht werden - in Pléhs wissenschaftlichem Sprachgebrauch heißt dies: Was geschieht mit der Vorstellung während der Interaktion? Pléh stellt zwei gängige Theorien vor: Eine besagt, dass alle Gedanken und Fähigkeiten - alles Erlernte etwa - mit genetischen Informationseinheiten vergleichbar ist. Dafür führt er den Begriff „Meme“ ein.3 D. h. wir sind dazu bestimmt, diese Inhalte eine Zeit lang in uns zu tragen, um sie dann weiterzugeben. Demnach hätten wir nicht allzu viel Einfluss auf die Bilder, Gedanken oder unsere erlernten praktischen Fähigkeiten. Das andere Modell vergleicht die Verbreitungsmechanismen der Vorstellung mit der Dynamik epidemischer Krank­heiten“, es lässt flexiblere (aber ebenfalls kaum determinierbare) Mutationen zu. Anhand des epidemischen Modells gibt es Vorstellungen (Gedanken oder Bilder), die nur kurze Zeit in der einzelnen Person überleben, andere können sich leicht unter der Bevölkerung verbreiten. Diese Modelle sind zwar wissenschaftlich, ihre Neigung zum Absurden scheint mir allerdings nicht geringer zu sein als das Absurde in Garpagoniada. Die Studie von Csaba Pléh ist offensichtlich auf die tägliche kommunikative Praxis bezogen und sie ist dort am interes­santesten, wo Pléh nach der Analyse der beiden Theorien eine Tabelle zusammenstellt, die er „ad hoc“ nennt: Dem­nach gibt es kleine, private Zwischenräume, in denen Materie mit geringem Widerstand vorherrscht. In diesem Bereich bewegen sich etwa Gesprächsfetzen oder Alltagsklatsch. Das, was in diesen Räumen zirkuliert, ist nicht langlebig. Was sich auf den anderen überträgt, kann sich leicht wieder in Luft auflösen. Andere Vorstellungen dringen ebenfalls durch kleine Zwischenräume, doch sie bewegen sich langsam, als ob sie einen großen Widerstand der Materie überwinden müssten. Ihre Inhalte können aber lange verankert bleiben. Hierzu gehören beispielsweise familiäre Lebensgewohnhei­ten (mitunter auch die Religion). Wieder andere Vorstellungen haben die Kraft, große geographische Distanzen zu über­

Next