Neue Zeitung, 1986 (30. évfolyam, 1-52. szám)

1986-01-04 / 1. szám

Neue Zeitung WOCHENBLATT DES DEMOKRATISCHEN VERBANDES DER UNGARNEEÜTSCHEN 30. Jahrgang, Nr. 1 Preis: 1,80 Ft Rndapest, 4. Januar 1980 Béla Szende, Vorsitzender des DVU Gedanken zum. neuen Jahr Das Leben des einzelnen gliedert sich genauso wie das kleiner Grup­pen und großer Gemeinschaften in fest umrissene Etappen, an deren Nahtstellen denkwürdige Tage zum kurzen Innehalten und zur umsich­tigen Besinnung auffordern. Diese Wendepunkte stellen zu­gleich das menschliche Denk- und Urteilsvermögen auf die Probe. Ge­lingt es denn, Näheres und Entfern­teres in einer zeitlupenartigen Zu­sammenschau zu vergegenwärtigen, gegeneinander abzuwägen, aus Über­einstimmungen und Abweichungen Schlüsse zu ziehen, die für den An­lauf in der neuen Etappe vonnöten sein können? Die regelmäßige Wiederkehr der Denkanlässe kann zweierlei Schluß­folgerungen mit sich bringen. Entwe­der man findet: alles wiederhole sich, es gebe nichts Neues unter der Sonne; oder man erkennt: Dauer im Wechsel enthüllt Veränderung. Der erstgenannte Schluß enthält eine Anleitung zum Erdulden und Aufgeben, der zweitgenannte eine Anleitung zum verändernden Han­­eln. Im Sommer 1985 hatte ich die Möglichkeit, in zwei Leselagern und in dem zum ersten Mal in der Ge schichte des Verbandes der Ungarn­deutschen (DVU) vom Jugendaus­schuß veranstalteten Sommerlager persönliche Begegnungen mit Grund­­und Mittelschülern sowie jungen Er­wachsenen (Studenten, akademisch Gebildeten, Fachleuten und sonsti­gen Erwerbstätigen) zu erleben. Allein schon die nationalitäten­spezifischen Anlässe zwangen die Gesprächspartner direkt und indi­rekt dazu, über den gegenwärtigen Zustand und die Aussichten des Nationalitätenbewußtseins der Un­garndeutschen gemeinsam nachzu­denken. Wollte man allerdings einige Er­fahrungen vorwegnehmen, so gilt es ehrlich zu sagen: das Bedürfnis, über die genannte Problematik zu reden, war bei Gesprächspartnern unter 14 Jahren viel weniger spontan vorhanden als bei den etwas „äl­teren“ Jahrgängen. Auf die Frage, wann der eine oder der andere zuerst dessen be­wußt geworden ist, daß er anderer Abstammung ist als die Mehrheit der Mitschüler, daß in seiner Fami­lie statt nur einer zwei Sprachen gesprochen werden, daß gewisse Überlieferungen, Gepflogenheiten und Verhaltensweisen grundsätzliche Abweichungen im Vergleich zu de­nen der Mehrheit aufweisen, ar­­gaben sich bei Grundschülern recht überlegenswerte Antworten, die un­bedingt zum Nach- und Weiterden­ken anspornen, obwohl sie — wie dies auch die einschlägige Fachlite­ratur bestätigt — vollkommen den Alterseigentümlichkeiten entspra­chen. Allen war die „andere“ Abstam­mung geläufig. Da diese jedoch nicht gleich auch automatisch die Gesin­nung bestimmt, quittierten die Be­fragten weitere Inhalte der gestell­ten Fragen mit Unverständnis oder Gleichgültigkeit. Für sie war es eine reine Selbst­verständlichkeit, daß die Großeltern ind die Eltern neben Ungarisch auch ie Dorfmundart beherrschten oder aß sie ihre Wohnung wie ihr Pri­­itleben vielleicht anders einrich­ten als die anderen. Glücklicherweise haben sie — dank zum Beispiel ihrer akzentfreien Un­garischkenntnisse — von außen her nie abweisende und ausschließende Reaktionen erfahren, und da auch die aus dem Ausland zu Besuch ein­getroffenen Verwandten größtenteils keine Verständigungsschwierigkeiten mit ihnen hatten, kam es ihnen gar nicht so richtig zum Bewußtsein, daß sie außer zu der größeren Ge­meinschaft auch noch zu einer be­sonderen Gruppe gehören. Wenn bei der „erwachsenen“ Ju­gend (Mittelschüler und ältere) auch die weiteren Inhalte lebhaften An­klang gefunden haben, so waren hier die Einstellungen — Gott sei Dank auch nicht durch nachteilige Erfah­rungen, sondern — durch erworbene Kenntnisse, gewonnene Erfahrun­gen und ein persönliches Engage­ment für die Sache, also durch eine mehr oder weniger ausgeprägte Ge­sinnung bestimmt. Während bei der erstgenannten Gruppe weder gefühlsmäßige noch gesinnugnsbedingte Momente eine Rolle spielten, zeigte die ältere Gruppe teils überwiegend gefühls­betonte, teils aber auch gedanklich ab- und ausgewogene Zugehörig­keitsmerkmale. Rei einzelnen Dis­kussionsrednern verspürte man so­gar starke kritisch-erwägende Vor­behalte gegenüber Verhalten, Ge­baren und Einstellung der eigenen ethnisch-sprachlichen Gruppe, wo­bei auf keinen Fall von einer fehlen­den oder mangelhaften Anhänglich­keit die Rede sein konnte. Mir ist dabei eindeutig bewußt geworden, daß die gegenwärtige Situation im Nationalitätenbewußt­sein gar nicht anders als durch ein vielseitig-vielfältig-analytisches Her­angehen erschlossen werden kann. Hiermit ist jedoch auch klargewor­den, daß es der Aufgaben noch viele gibt. Passend finde ich hierfür das weise Wort des Dichters Rüclcert: „Mehr als Erworbenes gilt, wie wirs erworben haben“. Und dies freilich jetzt nicht im alltäglich-materiell­­gegenständlichen, sondern in dem Sinne, wie es in Goethes Faust heißt: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen“. Die Zugehörigkeit durch Abstam­mung ist naturgegeben, ist jedoch bei der Gestaltung der Gesinnung entweder überhaupt kraftlos oder nur von sehr kurzfristiger Wirkung, wenn sie nicht ergänzt wird durch ein unermüdliches und ununterbro­chenes Bestreben, das Ererbte auch selbst zu eiwerben, um es zu einem unveräußeilichen Besitz zu machen. Abstammung und etwa Name ver­pflichten und motivieren weniger als angedgnete Kultur (Sprache, Sitte und Brauch, Werte der hohen und der Alltagskultur), mit anderen Worten: eine auch gedanklich fun­dierte gefühlsmäßige Gesinnung. Ge­rade diese wird vor Gefahren schüt­zen, die eigene Gruppe im Vergleich zu anderen einseitig für besser oder für schlechter zu halten; Vorurteile für naturgegebene Gesetzmäßigkei­ten zu nehmen; die eigene Schwäche durch die Betonung der Stärke der Gruppe (oder Nation) vergessen zu machen; anderen gegenüber unge­duldig zu werden und die Schuld für etwaige Mißerfolge ausschließlich Außenstehenden in die Schuhe zu schieben. Bei voll — auch staatlich — orga­nisierten Nationen ist der Weg von der angeborenen Zugehörigkeit zu der erworbenen durch ein ausge­bautes System von Institutionen (Familie, Schule, Verwaltung, kul­turellen Einrichtungen jeder Art, Massenkommunikation und vielen anderen mehr) von Anfang an ge­ebnet. Hier sind auch die auf das Gefühl einwirkenden Faktoren wie nationale Symbole (Farben, Hymne, heldenhafte Vorbilder), einheitlich gewordenes Denken und Handeln, allseitiger und lückenloser Sprachge­brauch usw. gegeben. Bei Nationali­­ten, die im Kontakt mit einer Na­tion (und einer oder mehreren Spra­chen) im gleichen Staat als gleich­berechtigte Staatsbürger und gleich­rangige Mitstreiter für die gesamt­gesellschaftlichen Zielsetzungen le­ben, kann dieser genannte Weg hol­priger und schwieriger sein, da das System der Institutionen nicht lük­­kenlos vorhanden ist. Da jedoch auch die Familie eine wichtige Rolle in der Bildung von nationalen (und entsprechend von Nationalitäten-) Gefühlen spielt, kann es nicht als unbedeutend empfunden werden, welches Schicksal die vorangegange- • nen Generationen erlebt haben, auf­grund dessen sie auch die wichtigsten Erfahrungen den Kindern vermit­+ £!„U.----V tionen als Erinnerungsgut werden wohl Inhalt und Form bei der Über­lieferung von Gefühkfmomenten und Einstellungen wesentlich bestimmen. Es handelt sich dabei um eine Ver­mittlung von Kenntnissen und Ein­stellungen, die, trotzdem daß sie von der Adressatengruppe (der jun­gen Generation) nicht selbst erlebt wurden, ihre künftige Verhaltens­weise doch mitbestimmen werden. Unterbrechungen des ruhigen Flus­ses der Tradierung ergeben ein De­fizit, das nur sehr langsam und mühevoll und erst durch starke in­stitutionelle Unterstützung ausge­glichen werden kann. Die genannten Gesprächspartner und alle ihre Altersgenossen können ausschließlich diejenigen sein, die für das Fortbestehen einer Nation und/oder einer Nationalität einste­hen sollten. Was sie erwerben und wie sie es erwerben, ist teils Sache und Verantwortung von Eltern, Lehrern, Mitbürgern und Zuständi­gen für die Schaffung, Aufrechter­haltung und Förderung der nötigen Institutionen. Das Wort „teils“ will sagen, daß ohne die aktive Mitarbeit der jugendlichen Zielgruppe wohl die erwünschten Einstellungen, Verhal­tens- und Denkweisen, mit einem Wort: ein differenziert erworbenes und deshalb auch nachhaltig beste­hendes Zugehörigkeitsgefühl nicht prägbar ist. Neues Jahr braucht neue Glut. Unser in Etappen gegliedertes, an den Nahtstellen von denkwürdigen Wendepunkten markiertes Leben stellt unser Denk- und Urteilsver­mögen auf die Probe. Finden wir zur Erkenntnis, daß wir uns diese An­lässe immer wieder als Anleitung zum verändernden Handeln neh­men müssen, so gilt im bereits ange­laufenen und in vielen noch kom­menden Jahren für eine unserer Hauptaufgaben, den Garanten des Fortbestehens auf ihrem Entwick­lungsweg geleitend — und wenn wir es schaffen — leitend vor- und nachsichtig Gesellschaft zu leisten. Vor- und nachsichtig will heißen: das Gedankliche nicht ohne Gefühl und die Gefühle nicht gedankenlos zu vermitteln. VIII. Kongreß der Patriotischen Volksfront Ausgeglichene Arbeitsberatung Wie bekannt hielt die Patriotische Volksfront vom 13.-15. Dezember ihren VIII. Kongreß ab. An der Beratung nahmen auch General­sekretär der USAP, János Kádár, stellvertretender Generalsekretär der USAP, Károly Németh, Minister­präsident György Lázár sowie zahl­reiche Repräsentanten des politi­schen, gesellschaftlichen und kultu­rellen Lebens teil. Vorsitzender des Landesrates der Patriotischen Volks­front wurde erneut Gyula Kállai, Generalsekretär Imre Pozsgay. Zu den Mitgliedern des neugewählten Vorstandes gehören auch die Gene­ralsekretäre der Nationalitäten ver­bände, unter ihnen auch Géza Ham­buch. Etwa 1200 Delegierte, 54 gehal­tene und 62 schriftlich eingereichte Diskussionsbeiträge sind eine kurze Statistik der dreitägigen Beratung, die von Imre Pozsgay als eine „aus­geglichene, in guter Atmosphäre verlaufene Arbeitsberatung“ be­zeichnet wurde, die „im Zeichen eines großen nationalen Zusammen­haltes die Positionen des Sozialismus in unserem Lande stärkte“. Er sei nicht mit allen Diskus­sionsbeiträgen einverstanden, meinte der Generalsekretär in seiner Ab­­sciiiiujieae. üs gao jetioen einige grundlegende Fragen, die weder vom Kongreß noch von seinem „Umfeld“ in Frage gestellt worden sind. Diese sind gerade die Grund­prinzipien der sozialistischen natio­nalen Einheit. Zum Ausdruck ka­men durchweg ein Bestehen auf un­sere Sicherheit, unsere mit der ge­sellschaftlichen Entwicklung ver­bundenen Interessen, unsere mit der Sowjetunion und den sozialistischen Ländern bestehende Gemeinschaft sowie die gemeinsamen Verteidi­­gungs- und Wirtschaftsorganisatio­nen und Institutionen. Auf einige in der Diskussion ange­klungene Fragen reagierend, war Imre Pozsgay mit der Initiative ein­verstanden, derzufolge mit den fort­schrittlichen Kräften anderer Län­der eine gemeinsame Volksfront für die Bewahrung des Friedens ge­schaffen werden müsse. Der Generalsekretär der Volks­front sprach auch über aktuelle Fragen des gesellschaftlichen, poli­tischen und kulturellen Lebens. Er betonte unter anderem, daß die Voraussetzungen zum Aufheben der Ungleichheiten in der Gesellschaft noch nicht vorhanden seien. Das Grundproblem sei jedoch, daß sich diese Üngleichheiten nicht den ge­sellschaftlichen Zielen entsprechend entwickeln und deshalb eher in ent­gegengesetzter Richtung wirken. Über die Volksfrontbewegung selbst stellte der Generalsekretär fest, daß diese ihren Aufgaben im­mer erfolgreicher nachkomme. Im Zusammenhang mit wirtschaftspoli­tischen Fragen meinte er, es sei wichtig, daß ein jeder, auf welchem Posten er auch arbeite, für die Be­lange der Wirtschaft zuständig sein müsse. Ausführlich beschäftigte sich Imre Pozsgay auch mit kommunalpoliti­schen Aufgaben der Bewegung. Die Volksfront sei bestrebt, meinte er, für die Einwohner aller Siedlungen menschenwürdige Verhältnisse zu schaffen. Dabei spiele auch die ge­sellschaftliche Arbeit zur Entwick­lung der Gemeinden eine wichtige Rolle. Zu Fragen der Bildung und Erzie­hung meinte der Generalsekretär, daß die Schule die wichtigste Bil­dungsinstitution sei. Imre Pozsgay betonte auch die Wichtigkeit des Natur- und Um­weltschutzes und setzte sich dafür ein, daß die Volksfront im Sinne der nationalen Einheit die Vertretung solcher Belange auf sich nimmt. Die politische Voraussetzung einer aktiven Zusammenarbeit sei die Entwicklung der sozialistischen De­mokratie, stellte Imre Pozsgay ab­schließend fest und betonte, daß der Sozialismus kein abgeschlossenes System, der Kommunismus kein ab­straktes Ziel, sondern eine Bewegung sei, die das bereits Erreichte Tag für Tag kritisch überwindet. Zu den erörterten Fragen und zu den Aufgaben der Volksfrontbewe­gung nahm der Kongreß in einem Abschlußdokument Stellung. Dieses wurde in den Tageszeitungen unter dem Titel „Stellungnahme des VIII. Kongresses der Patriotischen Volks­front“ veröffentlicht. Über die Nationalitäten Es war erfreulich, daß sich mehrere Diskussionsredner auch mit nationa­litätenpolitischen Fragen beschäf­tigten. Ministerpräsident György Lázár nahm in seiner Rede, die sich haupt­sächlich mit der Wirtschaft be­schäftigte, auch zu Fragen der so­zialistischen nationalen Einheit Stel­lung. „Der verantwortungsvolle Pa­triotismus will seine Ziele nie auf Kosten anderer Völker erreichen, sondern strebt eine fruchtbare Zu­sammenarbeit mit ihnen an. Die heutige Vaterlandsliebe beinhaltet die Verantwortung für die Zukunft des Volkes und betrachtet auch die nebeneinanderlebenden Nationalitä­­ten als verbindende Brücke, als Quellen der Freundschaft“, sagte er. Imre Pozsgay sagte unter anderem: „Ich glaube, wir müssen uns darüber im klaren sein, daß wir in einem Land leben und auch in Zukunft leben wollen, wo jeder selbst ent­scheidet, welcher Nation oder Na­tionalität er sich zugehörig fühlt. Dies ist der Ausgangspunkt in dieser Frage und ein jeder soll im vollen Besitz seiner staatsbürgerlichen Rechte davon so Gebrauch machen, daß er nach seiner Entscheidung auch seine kollektiven Rechte aus­üben kann. Denn dann brauchen wir auch über das Ungarsein nicht mit gesenktem Blick sprechen, weil wir damit niemanden beleidigen. Ich bin mit Gyula Illyés einverstanden, wenn er sagt, daß in diesem Lande Ungar zu sein keine Frage der Ab­stammung, sondern eine der Ent­scheidung ist. Natürlich gibt es historische Krämpfe, Übel, von denen wir uns befreien sollten. Bischof Károly Tóth sagte hier, der Antisemitismus, der Antikommunismus und der Haß an­derer Völker müssen aus diesem Lande verwiesen werden. Ich bin damit einverstanden. In dieser Frage ist dies der einzige humanistische Standpunkt. Und lassen Sie mich auch Bartók zitieren I Den Haß gegen­(Fortsetzung auf S. 3)

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