Neuer Weg, 1982. október (34. évfolyam, 10373-10399. szám)
1982-10-09 / 10380. szám
NEUER WEG / 9. Oktober 1982 Theater im Cibinium Keine Theaterprovinz am Zibin / Deutsche Abteilung mit einer Uraufführung an der Kulturwoche beteiligt / Von Emmerich Reich rath Am Ende des Rundtischgesprächs über das spezifische Verhältnis von Text und Aufführung in der heutigen Theaterkunst, zu dem das Staatstheater aus Sibiu während des Cibiniums Theaterfachleute, Dramatiker, Regisseure und Kritiker von auswärts eingeladen hatte, sprach der Direktor des Hauses, Pamfil Matei, die Hoffnung aus, der Cibiniums- Beitrag des Theaters möchte bewirkt haben, das Gespenst der Theaterprovinz von der Stadt und ihren Mimen zu vcr-scheuchen. Die Hoffnung ist berechtigt. Denn nicht nur die von dem Bukarester Ästhetiker Victor Ernest Maşek geleitete anspruchsvolle Diskussion hatte gezeigt, dass die Theaterleute aus der Zibinsstadt bei einem Vergleich auf Landesebene durchaus ebenbürtig mitreden können, vielmehr noch — und das ist das Wichtigere — hatten es die beiden Aufführungen bewiesen, mit denen die rumänische Abteilung zur Kulturwoche beigetragen hat: Der Dirigent von D. R. Popescu, inszeniert vop dem inzwischen in Braşov arbeitenden Regisseur Florin Fătulescu, und Tennessee Williams’ Camino Real, inszeniert von dem jungen Regisseur des Hauses Iulian Vişa — übrigens eine Uraufführung und eine Landeserstaufführung, schon seit einiger Zeit im Repertoire dieser Bühne, die nun während der Kulturwoche von einem zahlreichen und angeregt-aufmerksamen Publikum mit viel Beifall aufgenommen würden. Beide Aufführungen zeigten kaum Spuren der üblichen Abnützungserscheinungen, sie wirkten frisch und präzis und strotzten vor Spiellust. Es sind dies gewiss herausragende Leistungen dieses Ensembles, das über einige wandlungsfähige und intelligente Schauspieler (Radu Basarab, Virgil Flonda, Şerban Ionescu, Livia Baba, Constantin Chiriac, Nicolae Călugăriţă u.a.) verfügt und sich von seiner besten Seite zeigte — als eine Trappe, die in der Zusammenarbeit mit kreativen Spielleitern' neben manchem rumänischen Spitzenensemble ebenbürtig bestehen kann. Die beiden Inszenierungen .—. Fătulescus Dirigent als komödiantische, mit wirkungsvollen Gags durchsetzte Parabel in der Art des absurden Theaters über unentschlossen-unterwürfige • Menschen, die sich freiwillig einem Besessenen ausliefern, und mehr noch Vişas Camino Real als revueartig-traumhafte Vision menschlicher Existenz zwischen determinierenden Zwängen, Selbsttäuschung und permanenten Versuchen der Selbstbefreiung — liessen sich bei dem abschliessenden Rundtischgespräch gut verwenden zur Exemplifzierung der von Victor Ernest Maşek überzeugend und argumentiert vorgetragenen These von der Theateraufführung als freier, schöpferischer Paraphrase des ‘Textes, die künstlerischen Eigenwert hat. Dies ist zwar nicht unbedingt etwas Neues, kann aber den verknöcherten Anhängern einer illusorischen Werktreue — verstanden als mimetische Nachahmung (welcher?) Wirk-1 i oMro! L o ff o-nbo'? A_fL onninrt or<_ HWUiUt U vv*Tö Ö — sagt werden. Zwischen diesen beiden Marksteinen hatte die deutsche Abteilung mit ihrem Beitrag einen schjveren Stand. Immerhin: Die Dürre von Ignaz Stösser war eine Uraufführung, allerdings auch das Debüt eines lokalen Autors ohne Bühnenerfahrung, den dieses Theater für sich entdeckt hat. Man war also geneigt, die Erwartungen nicht sehr hoch anzusetzen, und man glaubt Franz Csiky aufs Wort, wenn er im Programmheft schreibt: „Im Dasein eines Dramaturgen sind die Freuden rar gesät. Man kämpft sich durch eine Flut meist uninteressanter und schwacher Stücke — die Wahrscheinlichkeit, in dem Makulaturstöss ein aufführbares Werk zu finden, ist äusserst gering“. Was ich ihm — nach der Aufführung — nicht mehr so ganz glaube, ist, dass der Grund für die Aufnahme dieses Stückes in den Spielplan nicht der Umstand war, „dass man junge Autoren fördern muss, oder 1 dass Ignaz Stösser ein einheimischer Autor ist, nein, der Hauptgrund war, dass Ignaz Stösser ganz einfach ein gutes Stück geschrieben hat.“ Aber „Dramaturgen sind Optimisten“ (Csiky), und der Kritiker möchte sich diesen Luxus auch einmal leisten: er ist gerne bereit einzuräumen, dass Ignaz Stösser vielleicht einmal ein ganz einfach gutes Stück schreiben wird. Eine wesentliche Voraussetzung dafür bringt der gebürtige Guttenbrunner, der als Journalist iri der Stadt am Zibin lebt, tatsächlich mit: den Sinn für echte Problematik und ein grundehrliches Engagement in ihrer Behandlung. Kann dieser Vorzug über dramaturgische Mängel des Stückes — Thesenhaftigkeit, ungenügende Motivation der Protagonisten und ihrer wechselnden Haltungen, Überhäufung der Fabel mit katastrophischen Ereignissen, die fast ausnahmslos hinter der Bühne geschehen, Deus-ex-machina-Lösung (Regen) — hinwegtrösten? Für diesmal vielleicht. Denn Ignaz Stösser ist eine Sache frontal angegangen, die viele als das Grundproblem rumäniendeutscher Existenz heute betrachten. Es gibt in unserer recht schütteren deutschen Dramatik keinen, und auch sorfiü in unserer zeitgenössischen Literatur selten einen Text, der die Gretchenfrage so sehr in den Mitteipunkt stellt: es geht, mit einer Replik des Stückes zu reden, „ums Bleiben oder Gehen“. Gretchenfragen allerdings sind immer auch mit Tabus behaftet, und das mag die Mängel des Stückes und der Inszenierung (Regie: Franz Csiky, Bühnenbild: Maria Bodor) auch wiederum teilweise erklären. Der Autor wählte für die Behandlung seines Themas eine historische Metapherdie Dürre, die seine Heimatgemeinde 1862—1863 heimsuchte und die Bauern vor die verzweifelte Alternative stellt — Ausharren oder Auf geben? Den historisehen Hintergrund, grfährt ^nicin p.Upi*dings bloss aus dem Programmheft, auf der Bühne erscheint die Geschichte zeitlos, eben als Sinnbild für die Erörterung einer ähnlichen Alternative. Daraus wurde, ein fast theoretischer Disput, wenn auch in brauchbaren Dialogen, der irgendwie in der Luft hängt. Die Inszenierung hat sich gescheut, das Ganze in ein konkretes sozial-hjstorisches Milieu zu verpacken (das karge Bühnenbild deutet mit einigen Lattengestellen vage den Umriss eines Bauernhauses um den versiegten Brunnen in der Mitte an), und bringt sich so zum guten Teil um die theatralische Sinnlichkeit. Franz Csiky spricht im Programmheft von «einer Art Verfremdungseffekt, und das deutet auf Absicht hin: man wollte offenbar nicht durch Verdeutlichung die Doppelbödigkeit der Auseinandersetzung verwischen, die eines sagt und ein anderes meint. Damit kollidiert aber die direkt-realistische Spielweise, die den Zuschauer weitgehend auf die akustische Vermittlung von Repliken wie „die Dürre ist in uns, da hilft kein Weglaufen“ verweist, anstatt symbolwertige Zeichen zur szenischen Veranschaulichung einzusetzen. Mit anderen Worten: der Inszenierung fehlt ein einheitlicher inszenatorischer Grundgestüs. Diese Bemerkungen zielen auf einen Idealfall ab, den es an unseren deutschen Bühnen leider viel zu selten gibt. Denn auch hier gilt, was in weiterem Zusammenhang als ein Grundmuster unseres deutschen Kulturbetriebs über die Zeiten hinweg erkannt wurde: wir stehen immer wieder vor einem neuen Anfang. Wenn man bedenkt, dass das Ensemble zur Zeit ohne ausgebildeten Regisseur auskommen muss und der Autor dieser Inszenierung, gewissermassen auch Autodidakt in Sachen Theater, über einschlägige Erfahrung nur bedingt verfügt, muss man zumindest von einem Achtungserfolg sprechen. Und es bleibt zu hoffen, dass diese Aufführung auch ihren Zweck erreicht. dass das Publikum nämlich dieser Angebot zur Auseinandersetzung mit einer Grundfrage unserer Existenz annimrnt. Voraussetzungen dafür schaffen nicht zuletzt die Darsteller — Rosemarie Müller (Grossmutter), Siegfried Siegmund (Vater), Annemarie Schunn (Tochter) und Jochen Grumm (Harro) —, die ihren Beitrag mit Ernst, Hingabe und Verantwortungsbewusstsein leisten. Szene aus „Die Dürre“ mit Annemarie Schunn und Jochen Grumm Szene aus „Camino Real“ mit (v.l.) Radu Basarab, Virgil Flonda und Şerban Ionescu Hans Erich Nossack Das Ungefähr in der siebenten Woche nach unserm Aufbrach sahen wir in der Ferne etwas, was einem Mal glich, das sich jemand aufgerichtet hat. Es stand mitten in der Einförmigkeit der endlosen Schnee- Ebene, durch die wir schon tagelang gezogen waren. Zufällig war die Sicht verhältnismässig klar, obwohl die Sonne nicht schien. Das Mal warf deshalb auch kaum einen Schatten, soweit sich das aus der Entfernung beurteilen liess. Aber kein Schneesturm wie sonst. Überhaupt hatte der Wind in den letzten Stunden merklich nachgelassen. „Also doch“, murmelte Blaise, mehr für sich als für mich, der neben ihm stand; denn es war im allgemeinen nicht seine Art, sofort eine Meinung zu äussern. Ich begriff, was er damit sagen wollte. Man hatte uns erzählt, dass vor uns bereits andere den Versuch gemacht hätten und dass sie niemals zurückgekommen wären. Genaues wusste natürlich niemand, wenn man nachfragte. Wir hielten es für ein Märchen, um uns von dem Unternehmen abzuschrecken. Solche Märchen bilden sich ja immer, wenn etwas als unmöglich gilt. (...) „Also los! Gucken wir uns den Schneemann mal an“,, rief Patrick schliesslich. Er schnalzte mit der Zunge, und die Schlittenhunde legten sich ins Geschirr. Wir brauchten eine gute Stunde, bis wir hinkamen. Die Entfernung (ässt sich schwer einschätzen, wenn sonst nichts da ist. Dann allerdings erkannten wir sofort, dass es tatsächlich ein eingeschneiter Mann war. Wir liessen alles stehen und liegen und klopften ihm den Schnee von Kopf und Schultern. Die Hunde kratzten unten herum, gaben es aber schneller auf als wir. Offenbar hatte der Mann keinerlei Geruch mehr an sich. Die Hände hatte er in den Taschen seiner Jacke. Seiner Haltung und seinem Aussehen nach hätte er ebensogut einer von uns sein können, was jedoch nichts besagt. Wer bis hierher kommen will, muss mit dem Klima rechnen. In hundert Jahren wird man sich auch nicht viel anders kleiden . können wie dieser Mann oder wie wir. Am meisten überraschte es uns, dass er stand. Keiner von uns hätte es je für möglich gehalten, dass man stehend erfrieren könne. Wir hatten ohne weiteres angenommen, man fiele vorher um oder man legte sich aus Müdigkeit hin. Besonders davor wurde ja gewarnt. Und nun, siehe da, dieser Mann stand aufrecht auf seinen Beinen, ohne sich auch nur an irgendwas anzulehnen. Denn woran hätte er sich auch anlehnen sollen? Wir wagten nicht einmal ihn umzulegen, aus Furcht, ihn dabei mitten durchzubrechen. Gewiss, die Möglichkeit, dass wir selber erfrieren würden, hatten wir in Rechnung gestellt, aber dies war denn doch ziemlich befremdend. Ich gab mir Mühe, seih Gesicht von der Maske aus verharschtem Schnee zu befreien, die“ an seiner Mütze, seinen Augenbrauen und Bartstoppeln festgewachsen war, ähnlich wie das bei uns zuweilen vorkam. Die anderen sahen mir zu und warteten; die Arbeit konnte nur einer machen, und so überliessen sie es mir. Ich musste sehr vorsichtig sein, um nichts dabei zu verderben. Ich klopfte ihm ganz sanft das Gesicht mit meinem Handschuh ab. Seine Augen waren geschlossen und die Augäpfel so hart wie Marmeln. „Kein Wunder“, sagte ich, „er hatte keine Schneebrille, darum hat er die Augen zugekniffen.“ Aber auch so liess es sich schliesslich nicht länger verheimlichen, dass der Mann lächelte. Nicht jetzt erst und über uns — welch ein Unsinn —, Eondem schon seit damals. Und auch nicht etwa,, dass er die Zähne fletschte, wie es Tote zu tun pflegen. Das ist kein Lächeln. Dieser aber lächelte wirklich mit den . Winkeln seiner Augen und den schmalen, farblosen Lippen. Kaum merklich; man glaubte zuerst, sich zu täuschen, doch wenn man wieder hinblickte, war es deutlich genug. Wie jemand, der einén schönen Gedanken hat, ganz für sich allein, und weiss es selber nicht, dass er dabei lächelt (...) Ich weiss nicht, was die anderen dachten. Doch warum sollen sie etwas anderes gedacht haben als ich? Es ist wohl am besten damit ausgedrückt, wenn ich sage: Wir kamen uns plötzlich ein wenig sinnlos vor. Und das ist schlimm. Es ist sehr viel schlimmer, als nur einfach erschrokken zu sein. Wie auf Verabredung benahmen wir uns leiser als sonst. (...) Wir haben genügend Tote in unserm Leben gesehen und • sind es gewohnt. Meiner Meinung nach lag es einzig und allein an dem Lächeln. Es zwang uns, behutsam zu sein. Es darf auch nicht ausser acht gelassen werden, dass, wir überaus anstrengende Wochen hinter uns hatten und dass uns nicht zum Lächeln zumute war. Obwohl natürlich häufig Witze gerissen wurdep, wie es sich gehört. An diesem Tag zogen wir nicht weiter. Es war erst gerade Mittag, und normalerweise hätten wir es uns noch nicht erlaubt, Rast zu machen. -Doch es bedurfte gar keines Beschlusses, es ergab sich wie von selbst. Wir liessen den Mann stehen, so wie er war, und schlugen hundert Meter davon entfernt das Lagerauf. Genauso wie immer. Jeder von . uns hatte seine bestimmten Handgriffe, damit es schnell ginge und keine Zeit » mit Nachdenken vergeudet wurde. Das Zelt wurde aufgerichtet und der Spirituskocher in Gang gebracht. Die Hunde bekamen ihren Trockenfisch, und nachdem jeder seinen Anteil unter Knurren verschlungen hatte, rollten sie sich im Schnee auf. Sie nutzen ja jede freie Minute, um zu schlafen, die Schnauze zwischen den Hinterbeinen. Inzwischen war es dann auch für uns so weit. Die Dosen mit Bohnen und Speck waren heiss geworden. Wie üblich kriegten wir unsere Lebertranpillen zugeteilt und hockten uns ins Zelt, um zu essen. Dabei nahmen wir- uns immer viel Zeit; es ruht sich besser aus. Gesprochen wurde niemals viel dabei. Es war also nichts Ungewöhnliches. (...) Nach dem Essen, und nachdem wir Geschirr und Besteck im Schnee gesäubert und wieder zusammengepackt hatten, krochen die drei anderen in ihre Schlafsäcke, als wenn nichts wäre. Blaise nahm seine Instrumente, die er den ganzen Weg mitgeschleppt hatte, um jeden Tag die Temperatur und Luftfeuchtigkeit nachzumessen und den geographischen Ort auszurechnen. Und was weiss ich sonst noch alles ... Ich verstand nicht viel davon, aber ich pflegte ihm dabei zu helfen, indem ich die Zahlen, die er mir aufgab, in ein Heft mit Rubriken eintrug. Und so war es auch heute. Blaise nahm es mit diesen Zahlen sehr wichtig.. Ich hatte ihif oft deswegen geneckt. Was geht uns der geographische Ort. an, hatte ich gesagt. Im Grunde interessiert uns das doch gar nicht. Und selbst wenn wir annehmen, dass dies Heft einem zu Gesicht kommt, was doch keineswegs unsere Absicht ist — was passiert dann? Die Leute werden die Zahlen in ihr Lexikon eintragen und stolz sein, dass sie einen Schritt weitergekommen sind. Aber nur die Wissenschaft. Niemand sonst kommt mit diesen Zahlen auch nur einen halben Schritt weiter, denn im Ernstfall weiss keiner was damit anzufangen. Und so hatte ich mich auch über die Vitamintabletten lustig gemacht. Sie sterilisieren uns nur gegen die Wirklichkeit, hatte ich gesagt.' Doch Blaise liess sich nicht dadurch beirren. Er meinte, man habe sich jeder zeitgemässen Erfindung zu bedienen, auch wenn man von ihrem nur relativen Nutzen überzeugt sei. Die, die wir Wilde nennen, argumentierte er, haben auch ihre Mittelchen, die es ihnen ermöglichen, unmenschliche Strapazen zu überstehen. Ich konnte mich jedoch nie ganz des Eindrucks erwehren, dass Blaise es nur darum so gewissenhaft mit seinen Zahlen nahm, weil ihm das einen Halt verschaffte. Während ich der Meinung war, dass wir rascher vorankommen würden, wenn wir gar nicht mehr nach rückwärts dächten. Blaise nannte das eine umgekehrte Romantik. Das alles war jedoch oft genug gesagt worden — es gehörte schon beinahe zur Verdauung —,' und diesmal sagte ich nichts. Ich bin überzeugt, dass ihm das auffiel, doch auch er sagte nichts. „Es klart immer mehr auf“, stellte er fest, als wir mit den Zahlen fertig waren. Und in der Tat, das konnte man auch ohne Instrumente sehen. Von dem erfrorenen Mann nahmen wir keinerlei Notiz. Wir schlenderten dann zu den Vorratssäcken zurück, die wir immer ins Zelt legten, um ihm mehr Festigkeit zu geben. Ausserdem konnten wir es so rechtzeitig merken, wenn die Hunde darüber hergefallen wären. Man musste immer damit rechnen, dass es sie überkam. Blaise stiess ein paarmal mit dem Fuss gegen die Säcke, und ich ahmte ihn nach. Alles ohne ein Wort. Dann krochen wir ins Zelt und rauchten eine Zigarette. Das war eine zusätzliche Zigarette; denn wir hatten nicht viel, zwei Stück pro Mann und Tag. Zu Anfang war ein wenig damit gewüstet worden. Wir glaubten, dass die anderen schliefen, aber das war nicht der Fall. Oder sie wachten vom Tabakgeruch auf. Denn plötzlich fragte einer aus seinem Schlafsack heraus: „Na, und was wollen wir nun mit dem Kerl anfangen?“ Die Stimme klang zornig; der Mann räusperte Eich wiederholt, als er das gesagt hatte. Und es war klar, dass auch die anderen zuhörten. Es liess sich also doch nicht umgehen, darüber zu reden. Blaise antwortete nicht gleich. Es war eine ganze Weile sehr still im Zelt. Niemand drängte ihn, es eilte ja auch nicht. „Wir werden ihn morgen fotografieren“, sagte er endlich. „Und dann?“ fragte es aus dem Schlafsack. 1 „Wir können ja versuchen, das Eis unter seinen Füssen loszuhacken, und ihn dann hinlegen. Für ihn bleibt es sich gleich, ob er steht oder liegt. Es wäre nur der Ordnung wegen. Machen wir uns nichts vor.“ Und nach einer Pause fügte er hinzu: „Der Mann ist nicht so wichtig.“ „Was denn?“ fragte die beharrliche Stimme. „Und wenn wir ihn nicht getroffen hätten?“ rief Blaise. Er verlor die Geduld, lenkte aber sofort ein. Es war auch eine dumme Antwort; den wir hatten ihn ja getroffen. „Wichtig ist nur“, bemühte er sich so ruhig und sachlich wie sonst zu sprechen, „dass wir hier in unserm Zelt sitzen und mit unserm gesunden Menschenverstand überlegen, wie weit wir es gebracht haben.“ „Ein komischer Anlass dazu, ein eţfrorener Mann.“ Diesmal war es Patrick, der sich äusserte. Es sollte höhnisch klingen. „Gerade weil er erfroren ist und wir noch nicht. Ich mat e ihm ja keinen Vorwurf daraus, es ist seine Sache. Immerhin, wir haben den Beweis erbrächt, dass man bis zu diesem Punkt kommen kann, ohne zu erfrieren. Das ist nicht viel, aber wir haben ja auch nicht viel erwartet. Nach allem, was man uns beigebracht hat, müssten wir schon längst erfroren sein.“ „Aber wie kommt er hierher?“ fragte eiher. „Und wie kommen wir hierher? Wenn man uns in zehn oder hundert Jahren hier findet, wird man genauso dumm fragen. Per Schlitten oder zu Fuss, ganz einfach. Wahrscheinlich zu Fuss. Der Mann ist, kein Vorbild. Vielleicht bildete er sich das ein, und da ihn niemand für voll (Fortsetzung auf Seite 4) Kultur \ K-ilX&staio /B• laTarttza IC.il8 Austragung zum Wochenende König Fussball gelangte am Wochenende nun in allen seinen Rängen zur Austragung und bot seinen Anhängern mal grosse Genugtuung, mal echte Enttäuschungen. („Karpatenrundschau“ Nr. 33, 20. August 1982) Genugtuung empfinden die Anhänger einer Mannschaft, wenn diese gewinnt; enttäuscht sind die Fans, wenn ihre Elf unterliegt. Ein bestimmtes Wochenende, an dem die Mannschaft ein einziges Spiel bestreitet, kann den Anhängern nicht mal grosse Genugtuung, mal echte Enttäuschungen bringen — während die einen (Anhänger der Sieger) froh sind, werden die anderen (Anhänger der Besiegten) enttäuscht. Zur Alternanz von Freud und Leid, die durch „mal... mal“ suggeriert wird, kann es nur während einer Reihe von Spielen kommen. Nun zum dicken Brocken: Soviel ich weiss, kann ein Spiel, ein (Wett)kampf, ein Streit, auch eine Meisterschaft zur Austragung/zum Austrag kommen, d.h. ausgetragen werden. Wer oder was wird hier aüsgetragen? Der König oder der Fussball? Werden Fussbälle ausgeteilt oder,wird ein König geboren? Wenn man eine Metapher verwendet, so sollte man sich vorher versichern, ob sie auch in den Kontext passt, ln unserem Beispiel ist das nicht geschehen, und die unliebsamen Folgen haben sich prompt eingestellt. Und schliesslich: Wo wurden die Spiele ausgetragen? In allen Rängen des Königs Fussball! Wie viele Ränge hat ein König? In den historischen Monarchien einen einzigen, und zwar den höchsten. Man muss schon einiges über Fussball wissen, um zu verstehen, dass „Rang“ hier weder für „Placierung“ (Platz, Stelle) im sportlichen Wettkampf noch für „Stockwerk im Zuschauerraum“ steht, sondern für unsere erste, zweite und dritte bzw. A-, B- und C-Liga. Ein Sportjournalist mit besseren Deutschkenntnissen hätte eventuell geschrieben: Seit dem letzten Wochenende, als auch die ersten Spiele der B- und C-Liga ausgetragen wurden, beherrscht König Fussball die Szene wieder souverän. Damit hat für die Fans eine neue Saison der grossen- Genugtuungen und bitteren Enttäuschungen begonnen. Rolf B os sert Anonymer Kupferstich, erschienen 1686 in Venedig Seite 3 lrriJj|-cklcht der Sprache Alte Temeswarer Stiche (6) In mehreren Kupferstichen erscheinen Stadt und Festung, Vorstadt- und Landschaft seitenverkehrt im Bild: die Palanka und das Schloss also links, die Stadt aber rechts. Diese Darstellung geht auf die korrekte Nachzeichnung der Vorlage auf die Platte zurück, wobei durch den Druck dann das Spiegelbild entstand. Zwei Blätter dieser Art erschienen 1686 und 1687 in Venedig bei Ercole Scala im Band „L’Ungheria Compendiata“. (Die Palanka lag nördlich der Festung, zum Teil auf dem Gebiet der heutigen Inneren Stadt, zum Teil auf dem der Fabrikstadt. Manche deuten die „seitenverkehrte" Darstellung denn auch nur bedingt falsch, da die Himmelsrichtung im Stich nicht angegeben ist.) Ober zwei Jahrhunderte Baugeschichte - unter Karl Robert von Anjou, unter dem Temescher Comes Pipo Spano aus der Mailänder Familie Scolari und schliesslich unter lancu de Hunedoara - prägten dem Stadtbild den stilistischen -V'r/^el der Zeit auf. Wie König Karl Robert Mess auch Comes Pipo Baumeister und Künstler aus Italien nach Temesvár kommen, um die Festung auszubauen, aber auch um Gebäude dem Repräsentationsbedürfnis entsprechend umund auszugestalten. Wir wissen jedoch sehr wenige Einzelheiten über einzelne urkundlich erwähnte Bauten wie das Dominikanerkloster (erwähnt 1319), die Sankt-Georgs-Kirche (1323) sowie weitere Kirchen und Kapellen, Wohn- oder Verteidigungsbauten. Die Details, die in den alten Stichen zu erkennen sind, können zum einen zeitlich nicht ganz genau eingeordnet -werden, zum anderen widersprechen sich die Darstellungen. Es ist jedoch mit Sicherheit anzunehmen, dass der Gesamtcharakter der Architektur von gotischen Stilmerkmalen beherrscht war, da die Baumeister und Künstler aus Italien die Bauweise ihrer Herkunftsgebiete hier weitergbführt haben. Doch auch spätromanische Elemente sind vereinzelt auszumachen, wie zum Beispiel an der Katharinen-Kirche, und es ist sicher nicht auszuschliessen, dass es solche tatsächlich gegeben hat. Zunehmend setzte sich jedoch die Gotik durch, sie ist an den Sakralbauten wie auch an den Wehranlagen deutlich sichtbar. Nachdem Temeswar in den Türkenkriegen eine Schlüsselstellung erlangt hatte, wurden auch die Vorstädte — die Grosse und die Kleine Palanka — immer grösser, und selbst im architektonischen Bild dieser Siedlungen ist die Gotik beherrschendes Motiv. Bewohnt war die Vorstadt von Rumänen wie auch von Serben, die auf ihrer Flucht vor den Türken von lancu de Hunedoara in Temeswar aufgenommen wurden. Gotisch ist auch der „Wasserturm" hinter dem Haupttor der Festung. (Hier soll erklärend das Für und Wider um die Bezeichnung dieses Turmes angeführt sein: Um einen Turm zur Versorgung der Stadt mit Trinkwasser kann es sich nicht gehandelt haben, der Name rührt wohl daher, dass der Turm über dem Kanal errichtet war, der das Schloss von der Stadt um eine Zeit trennte.) Dieser Wasserturm ähnelt ebenso wie die Kirchen in vielem den heute noch erhaltenen Bauten dieser Art in siebenbürgischen Städten und Dörfern. Der Kunsthistoriker Virgii Văiăşianu gehr darauf in seiner Geschichte der feudaler, Kunst auf dem Boden Rumäniens ein: „Es Ist leicht möglich, dass; einzelne Bauelemente, die wir heute in Hunedoara (am Schloss - Anm d. Verf.) antreffen, vorher bereits zum Beispiel am Temeswarer Schloss, an den Bischofspalästen von Grosswardein oder in Alba lulia gestaltet worden waren." Während der Eroberung Temeswars durch die Türken wurde einiges vom gotischen Stadtbild vernichtet, durch die harten Kämpfe bei der Vertreibung der Türken aber wurden auch die letzten Reste, die während der Herrschaft des Halbmondes in ihrer ursprünglichen oder aber in abgeänderter Form erhalten geblieben waren, völlig zerstört. Rodica Medeleţ