Pester Lloyd - esti kiadás, 1935. december (82. évfolyam, 274-297. szám)
1935-12-02 / 274. szám
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Immer noch muß als sicher angenommen werden, daß Mitte Dezember die Ölsperre gegen Italien beschlossen wird. Zwar hat man in den letzten 24 Stunden auch einige sanktionsk ritische Stimmen gehört, so besonders aus Kanada, das bisher zu den eifrigsten Verfechtern der Anwendung des Artikels IG gehörte, aber sie werden kaum etwas an den Beschlüssen des entscheidenden Kabinettsrats ändern können, der heute in London Zusammentritt, um die englische Haltung auf der zum 12. Dezember einberufenen Sanktionskonferenz zu erörtern. Die Mehrheit der Kabinettsmitglieder scheint für die unbedingte Ausdehnung der Exportsperre nach Italien zu sein, obwohl andere Zweifel daran hegen, ob durch diese Maßnahme die europäische Spannung erhöht oder vermindert werden wird. Das Verhalten der übrigen Sanktionsmächte wird sicher nach dem englischen Beispiel orientiert sein. Die kleineren Staaten werden sich der von England vorgeschlagenen Politik ohne viel Bedenken anpassen, und Frankreich hat am Samstag durch den Mund seines Ministerpräsidenten dem italienischen Botschafter Cerruti erklärt, daß es in voller Solidarität mit den übrigen Mitgliedern des Völkerbundes handeln werde. Damit scheinen alle Spekulationen auf die Schwäche des Völkerbundes hinfällig zu werden, Italien muß tatsächlich mit einer breiten und einigen Front der Mehrzahl der Mitgliedstaaten von Genf rechnen. Man denkt in Rom viel zu realistisch, um sich über die Sachlage irgendwelche Illusionen zu machen. Das beweist der Kommentar, den man heute zu dem am Wochenende erfolgten Schritt . Italiens in Genf hört. Der Protest gegen die bevorstehende Ölsperre war nicht, wie es ursprünglich hieß, in die Form einer Drohung mit ernsten Konsequenzen gekleidet. Ebenso sind die Bemerkungen der italienischen Presse auf den Ton einer würdigen Zurückhaltung gestimmt. Die zu erwartende. Verschärfung der Situation wird als unglückselige und folgenschwere Weihnachtsbescherung bezeichnet. Popolo d’Italia nennt das Vorgehen einen übertriebenen Zynismus und warnt, mit dem Petroleum zu spieleu, da es leicht entzündbar sei. Wenn der Völkerbund nicht in den Händen der Trabanten Englands wäre, würde er sieh mit der Wiederherstellung des Friedens und mit den entsprechenden Mitteln begnügen und nicht mit Mitteln befassen, die zu einer Vci Schürfung der Lage führen und geeignet seien, die Dinge auf die Spitze zu treiben, und die die Gefahr eines europäischen Krieges herauf beschwören könnten. Damit folgen die Zeitungen dem Beispiel, das Mussolini selbst in seiner letzten Rede vor den Kriegswitwen des Weltkrieges gegeben hat Mit verständlicher Bitterkeit stellte der Duce fest, daß die Länder, für die Italiener vor zwanzig Jahren ihr Blut , vergossen haben, heute den Abessiniern Waffen liefern. Was die wirtschaftlichen Sanktionen anbelangt, so zeigte Mussolini allerdings starken Optimismus, als er aus rief:, Niemand kann sich vorstellen, über welche Reserven wir verfügen! Jedenfalls bewahrt die italienische Politik kaltes Blut sie läßt sich nicht zu übereilten Schritten hinreißen und von einem Austritt aus dem Völkerbund ist immer noch keine Rede. Auf diese Selbstdisziplin der Italiener gründen sich jetzt die neuen Hoffnungen. Laval soll am Samstag Cerruti energisch erklärt haben, daß für Italien der Augrnbl'ck gekommen sei, in konkrete Verhandlungen einzutreten und genau umschriebene Wünsche vorzubringen. Auch in London glaubt man, daß Italien die noch vorhandene Frist bis zum Zusammentritt der Sanktionskonferenz ausnützen sollte, um den Friedensbemühungen Lavtils zu helfen. Im Zusammenhang mit diesen Erwartungen ist der englische Abessiniensachverständige Peterson angewiesen worden, weiterhin in Paris zu bleiben. Wichtiger als dieses Symptom sind die Nachrichten über eine bald bevorstehende Zusammenkunft zwischen Laval und Baldwin, die sich trotz des amtlichen Schweigens auf beiden Seiten des Kanals hartnäckig erhalten. Es ist zu hoffen, daß diese Entrevue Lösungsmöglichkeiten schaffen wird, denen sich auch' Italien anschließen kann. Ein standhafter König. Wenn der Geschichtsunterricht einmal ein treffendes Beispiel für die • Ch a rakterisier ung des wahrhaft königlichen Verhaltens suchen sollte, so wird er kaum eine charakteristischerwe Haltung aus der Gcgenwartsgeschichte wählen können, als. die König Georgs seit 'einer Rückkehr nach Griechenland. Es gehört wähl lieh mehr als potilisclic Klugheit, es gehört königliche Großmut, Überlegenheit, Standhaftigkeit dazu, wie er sich in der politischen Krise, die unmitteilvar nach seiner Rückkehi ausgebrochen ist, verhalten hat. Es zeugt in der Tat* von stählernem Charakter, daß er erst sich monatelang weigerte, putschartig zurückzukehren, vorerst das Vertrauensvotum von neun Zehntel seines Volkes abwartete und dann sofort nach seiner Heimkehr die vollkommene und restlose Amnestierung seiner politischen Gegner, der Teilnehmer des republikanischen Aufstandes im März dieses Jahres durchsetzte. General Kondylis, der militärische Überwinder dieses Aufstandes! und der energischeste Vorkämpfer der Restauration stemmte sich mit ganzer Gewalt gegen den Amnestieplan und drohte mit Rücktritt. Er wurde entlassen. Er veranstaltete Demon dra Honen gegen Vemizelos und für sieh selbst: es nützte ihm nichts. Der König hat sofort mit seinem ersten Akt unmißverständlich gezeigt, daß er keine Miarionettenfigur von Generalen mit diktatorischen Vmbitiionen, kein König der Rache und der Parteienzwivt, sondern ein energischer, aber friedlicher Herrischer sein will, der die königlichste aller Tugenden zu üben vermag, Milde walten zu lassen. Nachdem Kondylis Schritt für Schritt zurückgewichcn ist, mußte er schließlich zuriieklreten und konnte nur so viel erreichen, daß die amnestierten Offiziere der Armee nicht wieder reaktiviert, sondern mit halbem Sold pensioniert werden. Nach einer Athener Meldung hat das Amtsblatt Sonntag abend den Wortlaut des allgemeinen Amnestiegesetzes betreffend die am Märzaiifständ beteiligt gewesenen Militär- und Zivilpersonen veröffentlicht. Alle diese Personen, ohne Ausnahme, die wegen einer Beteiligung an jener aufrührerischen Bewegung angeklaigt worden sind --- etwa 700 an der Zahl —,: werden begnadigt. Diese Begnadigung kommt auch den ins Ausland geflüchteten 200 Persönlichkeiten, darunter auch Venizclos und Plastiras, zugute. Diese königliche Verfügung bedeutet einen ersten Sieg des Königs über die Opposition, die überraschenderweise sich gerade im Lager der eifrigsten Monarchisten gebildet hatte. Die Amnestie ist eine totale, d. h. den Begnadigten werden auch die beschlagnahmten Güter wieder zurückerstattet. Diese Geste hat dem. König gerade innerhalb der republikanisch’ gesinnten Bevölkerung viele Freunde ■erworben. Andererseits wird von zahlreichen Anhängern des zurückgetretenen Ministerpräsidenten Kondylis diese Handlung mißbilligt, ln diesen extrem royalistIschen Kreisen bedauert man sogar, wie ein diesen Kreisen nahestehendes Blatt am Sonntag zu verstehen gibt, die Rückkehr de Königs nach Griechenland. Die neue Regierung Demerzis ist eine Beamtemrvgierung ohne jede politische Färbung. Nach den Informationen der griechischen Presse wird sich die neue Regierung hinnen kurzem der , Nationalversammlung vorstellen und ihr Programm unterbreiten. Die Blätter glauben übrigens zu wissen, daß es zur Auflösung der Nationalversammlung nur dann kommen könnte, falls die Mehrheit der Regierung kein Vertrauen votieren würde. Der Sonderberichterstatter des Excelsior hatte ein Interview mit dem Ministerpräsidenten Demerzis. Über die Außenpolitik seines Kabinetts führte dieser aus: Die Regierung hält an dein Balkanbundc fest und ist bestrebt, mit sämtlichen Staaten, namentlich aber mit jenen Großmächten aufrichtige Freundschaft zu pflogen, mit denen Griechenland durch traditionelle F reundschaftsbezir hangen verbunden ist, wie auch mit den Staaten, die auf dem Festlande und zur See seine Nachbaren sind. Demerzis betonte, daß Griechenland mit Frankreich durch Jahrhunderte alte Bande verknüpft ist. Wir wünschen sehnlichts — sagte er —, daß nichts geschehe, was diese Freundschaft stören könnte. General Kondylis erklärte Pressevertretern gegenüber, daß der- König durch die Zusammensetzung der neuen Regierung bewiesen habe, daß er gegenüber sämtlichen Parteien eine unvoreingenommene Politik befolgen wird. In einzelnen royalistischen Kreisen verde dies offenbar eine gewisse Enttäuschung horvorrufen, doch billige die große Mehrheit der öffentlichen Meinung im allgemeinen die-Haltung des Königs. Dicse lovaié Erklärung des Generals Kondylis zeigt, daß die moralische Über-* legenheit des Königs in der griechischen Politik bere its ihre Auswirkungen zeitigt und man kann am nehmen, daß die Großmut seiner Amnestiegeste dent Beginn einer kräftigen Gesundung der inuenpolitisehen Verhältnisse Griechenlands bedeuten wird. Shakespeare als Klasscnheltl. Das russische Volkskommissariat für Erziehung hat vor wenigen Tagen eine dreitägige „Shakespeare-: Konferenz“ veranstaltet, an der Theaterleute, Pro-« fessoren, Lehrer, Künstler, Schriftsteller und Musiker, teilnahmen, also Leute aus allen Kreisen; die mit Kunst und Literatur zu tun haben. Es wurden elf Vorträge gehalten, denen eine allgemeine Aussprache folgte. Schließlich wurde ein Besohlußantrag angenommen, in dem die „Richtlinien der Shakespeare-1 Interpretation im Geiste des sozialistischen Realismus“ niedergelegt waren. . ‘ Dies bedeutet vor allem, daß die, bis her von den Shakespeare-Forschern so ziemlich allgemein geteilte Auffassung, Shakespeares Weltanschauung-sei aristokratisch gewesen, von den komihunisti.sehen Lite-» ralurhistorikern einer Revision unterzogen wird, Shakespeares Ideologie war, heißt es nach der „revü dierlen“ Auffassung, die in den Vorträgen dér Kon* ferenz zum Ausdruck kam, die der aufstrebenden bürgerlichen Klasse, deren Stellung im K l a ssen - Kampfe der damaligen Zeit in den Gestalten Shakespeares zur symbolischen Darstellung gelangt. So seien die Frauengestalten namentlich der Königsdramen keine der Wirklichkeit entrückten Heroinen, sondern Menschen mit politischen und sozialen Leidenschaften. Shakespeare lebte in einer aufgewühlten Zeit, und seine Dramen tragen zuim Verständnis der sozialen Kämpfe jener bewegten Übergangsperiode bei. Diese Theorie wurde mit der größten Eindringlichkeit von eihem jungen Shakespeare-Forscher entwickelt. dessen Laufbahn ziemlich typisch für die neu heranwnchsende Intellektuellenschicht Sowjetrußlands ist. Sergei Sergejewitsch Dinamow war ursprünglich Textilarbeiter, wurde dann Buchdrucker und diente in der Roten Armee bis 1926: erst nachher begann er sich wissenschaftlich auszubilden, w obei er vor allem englische Literatur mit besonderer Rücksicht auf Shakespeare studierte. Er ist jetzt 64 Jahre alt. An der Konferenz nahmen natürlich auch zünftige Literaturhistoriker teil. Der Versuch, Shakespeare in die Begriffswelt des Marxismus als Exponenten einer bestimmten Klasse einzuordnen, mutet auf den ersten Blick befremdend an. Es ist eine ziemlich extravagante Behauptung, daß der Dichter, der den ritterlichen Hof des Theseus der bürgerlichen Welt der Rüpel von Athen mit so grausamer Ironie gegen die letztere gegenüberstellte, ein Organ des Klassenkampfes eben dieser aufstrebenden bürgerlichen Klasse gewesen sei. In Shakespeares Werken, namentlich in den späten Tragödien, läßt sich in der Tat die Krise der hinsinkenden Welt der aristokratischen Bindungen, der Welt des Mittelalters studieren; aber Shakespeare erlebt den Sturz dieser Ordnung als tragisches Fatu-m, und seine Helden, die den Zerfall des Weltgefüges in der eigenen Seele tragen, versinken unerlöst in das Schweigen, dessen einzige mitleidlose Wäohterin die Natur ist. Wie jede große geistige Erscheinung, drückt auch Shakespeare die ganze Tiefe der sozialen und politischen Zeitsitüätion aus, aber der Versuch, ihn auf vulgärmarxistische Weise, einzig an Hand seiner Geburtsdokumente als „Bürger“ und mithin als Künder des ..bürgerlichen Klassenkampfes“ abzustempeln, ist naives Autodidaktentum oder schlimmer als das: politisch dirigierte Wissenschaft. Aber die wahre Bedeutung der Moskauer Shakespeare-Konferenz liegt vielleicht gar nicht in dem Inhalt der dort vorgetragenen Theorien. Das Wesentliche ist jene wirkliche Leidenschaft, mit der sich die neue Intelligenzschicht Sowjetrußlands, eine Schicht, die mit der alten Bourgeosie nichts mehr zu tun hát, auf die historischen und ästhetischen Werte der alten Welt stürzt. Früher, in der Kampfperiode der russischen Revolution hieß es, die ganze „historische“ Kultur sei für den neuen Menschen wertlos, dessen Erschaffung erst mit der russischen Revolution begonnen habe. Damals hat Rußland seine lernbegierigen Söhne zu Technikern erzogen. In den letzten Jahren erst trat die Wendung ein, für die auch die Laufbahn des marxistischen Shakespeare-Forschers Dinamow bezeichnend ist. Jetzt studieren die jungen Proletariersöhne an den russischen Universitäten alle abstrakten und historischen Wissenschaften mit wahrem Heißhunger, und von klassischer