Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt, 1892. November (Jahrgang 19, nr. 5744-5769)

1892-11-25 / nr. 5765

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Wachsmann, Sächsisch-Regen Carl Fronius, Mühlbach Josef Wagner, Kaufmann, Broos Paul Batzoni, Zehrer, Wien Otto Maas (Haasenstein & Vogler), Rudolf Mosse, A Opelik, M. Dukes, Heinrich Schalek, J. Danne­­­berg, Budapest A. V. Goldberger, B. Eckstein, Frankfurt a. M. G. L. Daube & Co., Hamburg Adolf Steiner, Karoly­­n Liebmann. Insertionspreis: Der Raum einer einspaltigen Garmondzeile tostet beim einmaligen Einraden 7 r., das z­weites mal je 6 fr., das drittemal je 5 fr. 5. W. ex­­­clusive der Stempelgebühr von je 30 Er. 1892. Die Borsielung des neuen Kabinetes. (Schluß.) Budapest, 21. November. Nach der Rede Weierles ergreift das Wort Karl Edtvös: Geehrtes Haus! Die Natur der Sade bringt es mit fi), daß ich auf die umfassende und gewaltige Rede des Herrn Ministerpräsidenten nur aus dem Stegreif antworten kan, aber dennoch muß ich antworten, und zwar infolge der Pflicht, welche mich an meine Prinzipien und an meine Prinzipiengenossen bindet. Vorläufig werden meine Bemerkungen nur kurz und allgemein­­­ gehalten sein, wobei ich mir jedoch vorbehalte, bei nächster Gelegenheit auf einzelne Details des Programmes eingehender zu reflektieren. Redner erklärt vor allem, daß er und seine Prinzipiengenossen auch diesem Kabinet gegenüber mit allen konsti­­­tutionellen Mitteln bestrebt sein werden, die Unabhängigkeit Ungarns zu er­­­kämpfen. Er bestreitet, daß das 1867er Ausgleichsgejeb ein Grundgeleß sei; dasselbe sei eben ein Gefeg wie jedes andere, welches durch die Legislative im Einvernehmen mit der Krone geändert werden künne. (Zustimmung auf der äußersten Linken.) Bis dahin aber müse mit aller Strenge auf die Geltend­­machung der infolge dieses Gefeges uns zustehenden Rechte geachtet werden und nach dieser Richtung hin werde die Partei des Renners wie bisher ihre Pilit genau erfüllen. (Webhafter Beifall der äußersten Linken.) Mit voller Aufrichtigkeit erklärt Nedner, daß es im Programme des Kabinettc­ei 8 Erklärungen gebe, mit denen er übereinstimme. So billige er es, daß das Kabinet die ihm durch die 1867er Gesehe gesicherten Rechte zur Ein- Haßnahme auf die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten in Anspruch nehmen werde. Aus voller Seele stimmt Redner damit überein, was der Mi­­­nisterpräsident im Interesse des Schußes der Reinheit und der Freiheit der Wahlen und der Beseitigung der bei den Wahlen vorkommenden Mißbräuche gesagt hat, nur erwartet Redner, daß das Kabinet seine nach dieser Richtung hin geleisteten Bes­prechungen auch getreu erfülle und nach der baldigen Schaffung einer diesbezüglichen legislatorischen Verfügung trachten werde. (Lebhafte Zustimmung der äußersten Linken.) Redner bemängelt nun, daß der Ministerpräsident in betreff der Reihenfolge der auf die Verwaltungsreform bezüglichen Gefegentwürfe sein bindendes Versprechen geleistet habe; «8 müssen zuerst die sogenannten Garantiegefege geschaffen werden und ins Leben treten und dann werde die Regierung und ihre Partei selbst einsehen, daß die soge­­­nannten Verstaatlichungsvorlagen zumindest überflüssig sein werden. (Zustimmung auf der äußersten Linken.) Auch dasjenige, was der Ministerpräsident über Die Förderung unserer finanziellen und volkswirtschaftlichen Verhältnisse gesagt hat, findet die Be­­­stimmung bei Rebwerd, da vermißt er in diesem Programm die Errichtung der nationalen Zettelbant und den Schuß der ungarischen Industrie gegenüber derjenigen Oesterreichs und des Auslandes. Auch die in Aussicht gestellten Res­­­ormen im Justizwesen finden seine Billigung, doch fordert er in seinem eigenen und im Namen seiner Partei die dringende, radikale Reform des Militär- Strafgefeges, welches für die afrikanischen Wilden, nicht aber für gebildete Beute tauge.­­­ Graf Gabriel Karolyi:Für Siam,das Land der weißen Elephantenl (Große Heiterkeit.) Was das Verhalten des neu­en Kabinetts hinsichtlich der kirchenpolitischen Fragen betrifft,dürfte es weder eine Partei,noch irgend jemanden geben, der mit dem Ministerpräsidenten nicht darin übereinstimmt, daß zur Aufrecht­­­erhaltung des interkonfessionellen Friedens alles aufgeboten werden müsse. Die Partei des NRedners billigt im Prinzip die Gelegent­würfe über die Rezeption der jüdischen Religion, die Glaubensfreiheit und die Verstaatlichung der Ma­­­trikeln, die Details werden seinerzeit zum Gegenstande objektiver Kritik gemacht werden. Seinerseits wird Redner, bei vollkom­mener Achtung für die gegnerischen Ansichten, die Regelung des Familien- und Eherechtes auf Grund der Ein­­­führung der obligatorischen Bi­ilehe betonen und fordern. Er erachtet es als eine Errungenschaft, daß der Ministerpräsident nach dieser Richtung Hin eine wenn auch nur prinzipielle, bindende Erklärung abgegeben habe; doch erwartet er,daß auch die Majorität in dieser Beziehung ihre Ansicht nicht ändere oder daß,wenn dies dennoch erfolgen sollte,das Kabinet hieraus die entsprechenden Konsequenzen ziehen werde. Redner sieht die Situation des Kabinetts nicht in ganz rosigem Licht. Er meint,daß demselben große Schwierigkeiten bevorstehen,und zwar nicht nur im­ Klub der liberalen­ Partei,sondern auch in Wien,voni wo noch jedes königliche Reskript hieher gelangt ist.(So ist’s lauf der äußersten Linken.)Doch möge das Kabinet davon überzeugt sein,sagt Redner,daß,wenn wir auch stets eine unerbittliche staatsrechtliche Gegnerschaft bekunden werden,wir anders­­­eits solchen Gefahren gegenüber,die wir auch fü­r die Nationale selche er­­­achten,wenn sie auch das Kabinet bedrohen sollten,dem­ Kabinet keinerlei kleinliche Schwierigkeiten bereiten werden(Zustim­m­ung rechts),sondern wenn das Kabinet,der heutigen Enunziation entsprechend,die großen Bedürfnisse unserer nationalen Politik getreu und wirklich nach nationaler Richtung hin auffaßt und denselben entsprechen will,dann wird dasselbe-wie ich dies schon vor einigen Tagen zu erklären die Ehre hatte—un­sererseits wohl einer oppositionellen,jedoch vollkommen objektiven Kritik begegnen.­Langan­­­ee lebhafte Zustimmung, Eljenrufe und Applaus auf der äußersten unten. Graf Albert Apponyi: Geehrtes Haus! Auch ich will mich heute nur auf einige Bemerkungen über das umfangreiche Programm des geehrten­ Herrn Ministerpräsidenten beschränken; es wird sich ja später noch Gelegenheit bieten, darauf ausführlich zurückzukommen. Der Herr Ministerpräsident bringt einen großen Fond an Popularität mit si) und auch wir zollen seinen Verdiensten als Finanzm­inister volle Anerkennung. Großdem muß ich schon feit einzelne seiner Aeußerungen beanstanden. Graf Apponyi führte nun aus, daß auch seine Partei den Ausgleich von 1867 als bleibende Basis betrachte; es freue ihn, daß der Ministerpräsident die daraus entspringenden Rechte und Pflichten der Nation voll aufrechterhalten wolle, was ja eine Wenderung der bisherigen Majoritätspolitik bedeute. (Lebhafter Beifall Kinks.) Unangenehm sei es daher, daß der Kabinetschef die Verwirklichung des ungarischen königlichen Hofstaates nicht in sein Programm aufnahm. Daß der Ministerpräsident auf die Lauterkeit und Freiheit der Wahlen Gewicht Lege, sei sehr erfreulich, aber wenn der Mi­­­nister in dieser Beziehung das in Aussicht gestellte Gefäß über die Kurial­­­gerichtsbarkeit für genügend halte, so werde die Nationalpartei durchaus nicht befriedigt sein. (Lebhafter Beifall linf3 und auf der äußersten Linken) Das Ministerium müsse die Wahlreform zur Kabinetsfrage machen, damit die Ma­­­jorität die Wahlvorlagen nicht ablehnen könne. Im betreff der Verwaltungs­­­reform erklärte der Redner, wen zugesichert wird, daß sämtliche Verwaltungs­­­gehege und außerdem die sogenannten Garantiegefege (Dienstpragmatik, Diss­­ziplinarverfahren, Verwaltungsgerichte) zu gleicher Zeit ins Leben treten werden, so werde die Nationalpartei diese Vorlagen mit voller Objektivität beraten. Wenn jedoch diese Sicherheit nicht geboten und vorher nicht ein befriedigendes Geieg über die Lauterkeit und Freiheit der Abgeordnetenwahlen geschaffen wird, so merde die Nationalpartei jede Reformbestrebung, welche bloß die Kräftigung der Zentralgewalt bezweckt, mit allen zur Verfügung stehenden kon­­­stitutionellen Mitteln bekämpfen. (Lange anhaltender stürmischer Beifall und Elfenrufe linss.) Auf die kirchenpolitische Enunziation der Regierung übergehend, sagt Redner: Im Ausgangspunkte begegnen wir und wieder, ja auch etwas weiter­­hin. Daß das Ansehen und das Souveränetätsrecht des Staates gewahrt werden müsse; daß für den Frieden zwischen den Konfessionen einerseits, zwischen dem Staate und der Kirche andererseits bis an die Äußerste Grenze gesorgt werden müsse; darüber herrscht wohl in diesem Hause seine Meinungsverschiedenheit. (Bestimmung sind.) Aber der­ Herr Ministerpräsident hat ji etwas o optimi­­­stisch und euphemistisch ausgedrückt, als er als Aufgabe der Regierung die Berhütung der Störung des religiösen Friedens bezeichnete. Der Lage und den Thatsachen entsprechend hätte es heißen müssen:. &$ muß für die Herstellung des durch die Thätigkeit der bisherigen Regierung gestörten religiösen und farchlichen Friedens gesorgt werden. (Stürmische Zustimmung und Elfenrufe links; Bewegung rechts.) Die Regierung, feßt Redner fort, stellt zweierlei Verfügungen in Aus­­­sicht: provisorische, transitorische und solche, welche eine endgültige Regelung eines großen Teiles der kirchenpolitischen Fragen involvieren. Zu den provi­­­sorischen gehört wohl der Gelegentwurf über die Einführung der Zivilmatrifeln. Was der Ministerpräsident hierüber gesagt, findet Redner etwas dunkel. (Zur Stimmung linf3.) Der bezügliche Gelegentwurf wird, wenn Redner recht ver­­­standen,­­­­iese Reform nur prinzipiell anssprechen, etwa wie dad mit der Verstaatlichung der Verwaltung geschehen (Widerspruch recht), denn der Ministerpräsident hat von gewissen Verfügungen gesprochen, die so lange in Geltung sein sollen, biß die allgemeinen Zivilmatrifeln fattiich ind Leben treten. Und da begegnen wir wieder Forderungen, welche die Regierung gegen­­­über den matrifelführenden Seelsorgern aufstellen will. Redner weiß nicht, um was für Forderungen es sich handelt; nur bittet er, daß nicht wieder, wie in der Februarverordnung, von den Seelsorgern et­was verlangt werde, was der tid­ligen Auffassung zuwiiderläuft. Das 1868er Gefeg möge, so lange «3 Gefeg ist, durchgeführt werden, aber der Staat sol­­gt durch seine eigenen Or­­­gane durchführen Lasser. Was die Reform des Eherechtes anbelangt, so faht Redner die bezügliche Aeußerung des Ministerpräsidenten so auf, daß die prin­­­zipielle Enunziation der Krone betreff3 der obligatorischen Zivilehe das M­inis­­­terium zur Einleitung der Arbeit in dieser Richtung ermächtigt, daß si aber die Szene das verfassungsmäßige Recht vorbehalten hat, in welchem Stadium der Durchführung immer betrefft der Modalitäten derselben ihre Auffassung geltend machen zu können. (Zustimmung linker Bewegung und Unruhe rechts.) Wollen wir — fragt Redner — die Frage präzisieren oder im Dunkel be» lassen? it sie so heifet, daß ihre Präzisierung und Diskutierung unangenehm it? (Großer Lärm rechts. Rufe: Hört!) Das verfassungsmäßige Recht der Krone, ihren Standpunkt in irgend­­einem Stadium der Durchführung einer prinzipiellen Vereinbarung zur Geltung bringen zu künnen, ist entweder etwas Selbstverständliches und dann war es schade, dasselbe bei dieser Gelegenheit besonders zu betonen (Geräuschvoller Beifall links, große Bewegung rechts; Rufe links: „Hierauf antworten Sie!" Großer Lärm, der Präsident lautet: Allgemeine Bewegung­, oder aber e3 war dies feitend des Ministerpräsidenten sein Pleonasmus, dann bedeutet e3 nicht3 anderes, als daß betreff3 der Grund­­­prinzipien die zu schaffenden Eherecht3 noch seine solihe Vereinbarung vors­­tanden ist, welche es ausschlöffe, daß auf diesem Gebiete in dem ferneren Stadium der Durchführung nicht solche Konflikte vorkommen werden, betreffs deren Lösung die Regierung heute seinerlei Orientierung besigt. (Langanhalten­­­der Beifall und Applaus sintd.) Redner bittet den Ministerpräsidenten, sich zu äußern, ob das, was er betreff3 der Reservatrechte der Krone gesagt, ein Pieo­­­nasmus war oder ob er so zu deuten sei, daß die vom Nebner vorgebrachte Folgerung berechtigt ist. Sti leßteres der Fall, dann entbehrt die betreff3 der Bivilehe gemachte Enunziation der Regierung jeder praktischen Bedeutung (Lebhafte Zustimmung und Beifall links) und dann hatte auch die Kabinets­­­frise, deren Zeugen wir waren, seine prinzipielle Grundlage. (Zustimmung links, Bewegung rechts.) Sodann führte Graf Upponyi aus, daß er auch Heute auf demselben Standpunkte stehe, den er seit dritthalb Jahren wiederholt dar­­­gelegt habe. Die­­jenigen eherechtlichen Zustände seien unhaltbar, denn sie verlegen die Gemissensfreiheit vieler, und die verschiedene Behandlung der Ehe­­­prozesse erschütterte die Fertigkeit des ehelichen Bandes. Diesen Uebelständen müsse abgeholfen werden, der Staat müsse eine einheitliche Zudikatur schaffen, deren Bived die Fertigung des ehelichen Bandes, die Hintanhaltung leichtfertiger Uebertritte sei, natürlich ohne die Rechte der Kirchen auf dem Gebiete des Gewissens zu tangieren. Davon ist dann die Einführung der Zivilehe unzers­­trennlich. (Lärm und Rufe rechts: „Die obligatorische ?“) Graf Apponyi er­­­widerte, er habe sich über die Form der einzuführenden Zivilehe noch nie ausgesprochen. (Lärm und Heiterkeit rechts). Die Hauptsache sei die Beseitigung der vorhandenen Weberstände; die Form, in welcher dies geschehen soll, sei eine Nebensache.. (Lebhafter Beifall Iinks; Lärm rechts.) Die liberale Partei selbst habe ja noch vor 14 Tagen die Form nicht für die Hauptsache, als die Egnatur und das Nonplusultra des Liberalismus gehalten. (Stürmischer Beis­­fall und Applaus links.) Mean dürfe Reformen nicht zum Gegenstande Tibe- · ··· · ·· fallen ‚läßt. Benilleton, Der Historische Sinn. [E. Nybrn.-Kronstadt.] € 3 ist eine alte Erfahrung, daß es kaum zwei Menschen giebt, die in ihrem Urteil über eine Sache — inwofern e8 nicht ganz erakt zu begründen ist, wie etwa formal Logische oder mathematische Lage — volständig übereinstimmen. Die Ursache davon ist Har genug: sie liegt in der durchgängigen Verschiedenheit der Menschen untereinander, und auch der Einsicht wird sie gewiß niemand verschließen, daß diese Einrichtung der menschligen Natur eine weite und nüßliche ist, weil dadurch allein ein mannigfach gegliederte, reiches Geistesleben in der Menschheit möglich wird. Aber ganz abgesehen von dieser objektiven Bedeutung, die der Berichiedenheit der Meinungen, zukommt, so wird sie auch jeder einzelne für sie als eine große Annehmlichkeit und ein wertvolles Mittel seiner geistigen Bildung empfinden. Die eigenen Anschauungen mit denen anderer zu vergleichen, zu sehen, wie sich dieselbe Sache von einem fremden Standpunkt, unter fremdem Gesichtswinter betrachtet, darstellt, dadurch­ die Mängel und Einseitigkeiten seiner Meinung zu erkennen oder auf die der anderen in ähnlicher Weise einzuwirken und so lernen und zu lehren, in reger Wechselwirkung ‚zu ist ein hoher und reiner Genuß für jeden, der nicht entweder allzuhoch über seiner Umgebung steht oder jene glückliche Borniertheit besigt, die­­ss die Möglichkeit, einen Irrtum zu begehen, gar nicht ein­­­gesteigerter Lebhaftigkeit, ja Heftigkeit, auf einander losreden ·· Wer"in der Lage ist,sein­ lebhaftes Bedürfnis nach vernünftigem Meinungsaustausch häufig und mit recht vielen Personen befriedigen zu­ können, wird aber bald genug die Erfahrung machen, daß dies nicht immer ein Ver­­­gnügen is. Wer Hätte nicht schon einmal eine jener unfruchtbaren Disputa­­­tionen mitgemacht,­­­in denen die Vertreter verschiedener Meinungen in immer ; jeder sieht sich genötigt, im Glauben, der Fehler des anderen stehe nur in einer falschen Schlußfolgerung, zu immer entlegeneren Prämissen zurückzugreifen, man kommt so aus dem Hundertsten ins Tausendste, und es gehört Ion zu den selteneren Fällen, wo die Streitenden zum Schluffe zu der Einsicht gelangen, daß sie auf ganz verschiedenen Grundlagen stehen. Das gewöhnliche Ende ist, daß sie sich gegenseitig für Dummköpfe halten und das unangenehme Bewußtsein davon tragen, Beit und Worte verschwendet zu haben. Es können eben zwei Menschen von ziemlich gleicher Intelligenz doch ganz grundverschiedene Geistesrichtungen haben, die ihnen jedes gegenseitige Verständnis und jede Einigung über irgend­­einen wichtigen Punkt unmöglich macht: sie sind wie durch eine unüberbli­dbare Kluft von­­einander geschieden, ohne daß ihnen immer auch von vorneherein die Gründe dafür bewußt sind. Denn es sind meist nicht genau fixierte oberste Grundlage, aus denen man jedesmal sein Urteil für den konkreten Fall ab­­­leitet, sondern vielmehr ganz unbewußt ausgeübte und angewendete Betrachtung s­­­ind Anschauungsweisen, deren tiefere Grundlagen man erst durch fortgelegte Reflexion bei sich selber zu entdecken und sich Mar zu machen pflegt E3 ließen sich mehrere derartige, paar­weise im Gegenzug stehende An­­­schauungsweisen aufzählen, die in unserer Zeit die Geister trennen. In Diessen Zeilen sol der Bersuch gemacht werden, einen dieser Gegenfage, der in seinen Folgen von großer und tiefeinschneidender Bedeutung ist, zu betrachten. Es sol die Rede fein vom“ Historischen Sinn und dessen Widerspiel. Mit größerer oder geringerer Mühe, oft auf den ersten Blick, läßt sich beinahe in allen Meinungen und Ansichten urteilsfähiger Menschen besonders betreffs all­­­gemeinerer theoretischer Fragen eine dieser beiden Anschauungsweisen als zu Grunde liegend und Richtung gebend erkennen.­­ch­­lage beinahe, denn bei allen geistigen Erscheinungen thut man sehr Unrecht, mit einem starren „Entweder, Oder” feststehende Kategorien in Anwendung zu bringen. Was ist „Historischer Sinn“ und was sein Gegenteil? Nicht gemeint ist bloß, sei zunächst bemerkt, Freude an Historischen Studien, beziehungsweise Mißachtung derselben,­ es ist ein viel umfassenderer Begriff gedacht. Der historische Sinn ist diejenige Anschauungsweise, welche alle Dinge als Phasen eines Entwickklungsprozesses zu verstehen sucht und daher bei ihrer Beurteilung nicht nur ihren momentanen Zustand ins Auge faßt, sondern auch die diesem vorangeeenden und ihn bedingenden Zustände und zugleich den voraussichtlichen weiteren Fortgang und das mutmaßliche Ziel dieser Ent­­­wicklung. Im Widerspruch dazu steht diejenige Auffassungsart der Dinge, welche alles am Maßstabe gewisser, eben herrschender und als allgemein und absolut giltig angesehener abstrakter Begriffe messen und dementsprechend billigen oder ver­werfen will. Auf sie läßt sich die Bezeichnung „Rationalismus“ auf­­­wenden, was weiter unten näher erklärt werden soll. Zunächst muß der Begriff der „Entwickklung“ genau definiert und im ganzen Umfange seiner Bedeutung klargelegt werden. Die Verpflichtung hiezu ist eine umso größere, als das Wort häufig genug gehört wird. Durch­ häufigen Gebrauch. Leiden auch Worte, sie werden immer dehnbarer, ihr eigentlicher Sinn verwischt sich und verschwimmt immer mehr und schließlich wendet sie jeder an und jeder denkt sich dabei et­was anderes oder auch gar nichts. *) „Entwickklung“ oder „Evolution“ bedeutet das allmähliche Hindurchgehen­ eines Dinges doch eine Reihe von Formen und zwar derart, daß die je spätere Form höher steht, das heißt reicher gegliedert, in ihrer Lebensäußerung und Betätigung vielseitiger und wirksamer ist, als die je frühere, auß der sie hervorgegangen ist und in der sie fermhaft vorgebildet war. Auf diesen legten Worten liegt der allergrößte Nachdruck, ohne sie wäre die Defini­­­tion unvollständig und unzulänglich. Eine bloße Aufeinanderfolge von Formen stellt noch seine Entwickklung dar, auch dann noch nicht, wenn Die spätere Form höher steht, als die frühere. Innere Einheit und Zusammengehörigkeit erhalten diese Formen nur dadurch, daß jede von ihnen in si­­­cie Bedingungen zum Heustandekommen der aller folgenden enthält. Um das Gesagte an Beispielen aus dem Gebiete menschlicher Artefakte zu erläutern, so denken wir uns einen Klumpen Thon, den wir nacheinander auf verschiedene, aber ganz zufällige Weise stoßen, Ineten, drüden, prefsen. Wir erhalten dadurch wohl eine Aufeinanderfolge von Formen, jedoch nichts, was einer Entwickklung ähnlich­ wäre, denn die Formen haben weder Sinn no Bedeutung und stehen mit­­einander in gar keinerlei Zusammenhang. Dadurch, daß ich den Thon jegt zusammenballe, ist nicht im mindesten bedingt, daß ich ihn im näc­hsten Augenblicke breit drüde. Bilde ich nun aber aus dem · *) &3 ist freilich nicht immer praktisch, die Worte, die man anwenden mir, auch genau zu analysieren und zu Definieren! Hätte der ungemein geistreiche Rembrandt- apostel Langbehn dies bei den vielen, vielumfassenden Begrifen, mit denen er so grazids gaufelt, nicht weise genug unterlassen, so hätte sein Buch wohl nicht den zehnten Teil seines Umfanges erreicht! Und wo wären dann auch die unerhört vielen Auflagen erlieben ?! Nur feine Pedanterie, dann lassen sich mit einem Dusend Begriffe under verrichten!

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