Bukarester Gemeindeblatt, 1911 (Jahrgang 7, nr. 1-52)

1911-07-24 / nr. 30

118 No. 30. Bukarester Gemeindeblatt Daß die „Wohnungsfrage” von hoher Bedeutung ist für das leibliche, aber ebenso auch für das geistige und sittliche Wohl des Volkes, ergibt sich ernsterem Nachdenken bald. Es ist mit Freuden zu begrüßen, daß die Woh­­nungsnot weite Kreise edeldenkender Menschen gedrängt hat, auf Abhilfe zu sinnen. „Bauvereine“ haben sich ge­­bildet und sind daran gegangen, billige Wohnungen zu schaffen. Auf dem Lande erstehen so, so mu> und doch einfach, die Arbeiterhäuser, die dem Arbeiter das Gefühl der Heimatlichkeit einflößen, den Zug zur Stadt, zur Großstadt, die Auswanderungsluft ganz beträchtlich hemmen und dem Lande die bodenständige Bevölkerung erhalten, die das Land braucht, um die Bedeutung zu behalten, die es haben muß, wenn es um Staat und Volk gut stehen soll. Ich rede hier von deutschen Verhältnissen, soweit ich sie beurteilen zu können glaube, namentlich von der Ostmark, von dem mit Unrecht oft so verschrieenen Ostelbien, in dem ich mehr als elf Jahre tätig war. Die christliche Liebestätigkeit hat hier mit freu­­digem Herzen und williger Hand zugegriffen. Vor allem leuchtet hier ein Name: ver des gottgesegneten Pfarrers von Bodelschwingh. Er hat den Arbeitslosen, aber Arbeitswilligen die Möglichkeit eröffnet, in Arbeiter­­kolonieen Obdach, Unterhalt, Lohn für fleißige Arbeit zu finden. Die wandernden Brüder von der Landstraße, die so leicht in Gefahr kommen, der Trunksucht zu ver­­fallen und damit der menschlichen Gesellschaft verloren zu gehen, fanden die rettende Hand, die ihnen den Weg zur Ar­­beitsfreudigkeit wies und den Aufstieg nach aufwärts bahnte. Um dem Gedanken zu begegnen, als sei diese Bodel­­schwinghsc­he Arbeiterkolonie bloß eine persönliche Liebhaberei, eine Art pastoraler Sport, möchte ich erwähnen, daß Kaiser Friedrich, Bodelsschwinghs Jugendgespiele, die Ehrengabe, die ihm das deutsche Volk zur silberne Hochzeit widmete, den Betrag von 170.000 Mark, für die Be­­gründung weiterer Arbeiterkolonieen bestimmte. Doch von Bodelschwingh und seinem Lebenswerfe soll später einmal, wills Gott, hier erzählt werden. Jetzt möchte ich zurückkommen auf das erste Wort Frenssens, das die 'zum Denken mahnt, welche nicht im kalten Steinhaufen einer großen Stadt aufwuchsen. Der Dank müßte sich auch umsetzen in die Tat menschenfreundlicher Fürsorge für die Kinder der Großstadt, denen die Eltern wegen ihrer beschränkten V­ermögensverhältnisse keinen Sommeraufent­­halt auf dem Lande gewähren können. ALs ich heute meine drei Kinder jubelnd in den Wagen steigen sah, der sie zum Bahnhof brachte, und dann sie noch jubelnder, wenn auch die Steigerung sehr schwer fiel, in den richtigen Eisenbahnwagen klettern sah, der sie zunächst bis Predeal bringen soll, von wo sie dann zu dem seit Wochen ersehnten Ziel der Reise, nach Rosenau, kommen wollen, da habe ich herzlich Gott gedankt, daß wir den Kindern diese Freude machen können. Und in dem Gedanken an der Kinder Freude bin ich fröhlich heim­­gegangen ins leere einsame Haus, an dessen Tür mich­ allein der treue Hund grüßte. Und da ich nun, in stiller Klause, der lautlosen Stille, die das Fehlen der Kinder­­schar verursacht, noch etwas ungewohnt, diese Zeilen schreibe, denke ich froh meiner, aber auch ernst anderer Kinder, die nicht hinauskönnen. Ferienkolonieen müßten m. E. von unserer Ge­­meinde eingerichtet werden. In dem Sinne scheint mir Herrn Jacobis Gedanke zukunftsreich zu sein. Ferienkolonieen sind nicht etwas so­gar Neues. Bahn­­brechend wirkte gewissermaßen als Vorläufer auf diesem Arbeitsfelde ein Arzt, Medizinalrat Dr. August Hermann Werner. Er war ein rechter Kinderfreund, der sein Christentum auch durch die Tat bewies. Er wollte eine Heilanstalt für arme Kinder errichten ; den Kindern galt überhaupt sein ganzes Lebenswert. Der wackere Mann legte dafür den zehnten Teil seines Ein­­kommens zurück, Freunde steuerten bei. 1854 konnte er in Wildbad, im württembergischen Schwarzwald, kranke Kinder in der ersten Heilstätte aufnehmen, 1862 ein neues Haus, Bethesda genannt, im Soolbad Jagstfeld für skrophelkranke Kinder eröffnen. Dies war der Anfang. 1895 gab es schon 30 solcher Heilstätten in Soolbädern. Meist sind sie von Diakonissen geleitet : mehr als 100.000 Kinder sind da verpflegt worden. Ist das nicht ein schöner Beweis christlicher Barmherzigkeit ? Großes wächst aus kleinen Anfängen. Ein Kronentaler, den eine Lehrerwitwe ihm schenkte, hat den Grundstoß für das Wernersche Liebes­­werk gebildet. Sollte nicht auch auf einem Fünftelstück, das den Anfang machen könnte für die Begründung einer Ferienkolonie unserer Gemeinde, Gottes Segen ruhen können ? Ist ein württemberger Arzt der Vater der Kinderheil­­stätten gewesen, so gebührt einem Schweizer Pfarrer der Ruhm, für die Errichtung von eigentlichen Ferienko­­lonieen den Anstoß gegeben zu haben. Pfarrer Bion in Zürich regte es an, daß 68 erholungsbedürftige arme Zü­­richer Stadtkinder in die Berge gingen, von Lehrern und Lehrerinnen geleitet. In ländlicher Umgebung sollten sie gute Luft, kräftige Nahrung und rechte­­ Jugendlust ge­­nießen. Unabhängig vom Schweizer Pfarrer brachte der Hamburger Schulverein in demselben Jahre 1876 sieben Schulkinder bei geeigneten Bauernfamilien auf dem Lande unter. In diesem, auch von andern be­­folgten, Verfahren war der Gedanke maßgebend, daß die Kinder an einzelne Familien verteilt wurden, was öfters Teil davon die Pflegeeltern selbst übernahmen. Die schwei­­zerische Art, eigentliche Kolonieen auszusenden, hat sich in Deutschland ziemlich verbreitet. Die Sache fand viele Freunde ; die für diesen edlen Zweck sich bildenden Ver­­einigungen schlossen sich zu einer „Zentralstelle“ zu­­sammen, die ihren Sitz in Berlin hat. Aerzte sind bei der Auswahl der schwächsten Kinder beteiligt, Lehrer, Lehrer­­­innen, Diakonissen führen dann die Kolonieen in Stärke von 20--30 Kindern, zur Ferienzeit hinaus in die freie Natur. Nur einen dritten Weg ist man gegangen, wo die Mittel zur Uebersiedelung der Kinder nicht ausreichten. Die Kinder werden früh am Morgen, oder auch bloß am Nachmittag, mit Straßenbahn oder sonstigem Verkehrs­­mittel in nahegelegene Waldgegenden oder aufs Land hinausgebracht ; dort bleiben sie den Tag über, spielen, baden, schlafen, singen, die leibliche Verpflegung wird natürlich auch nicht vergessen, und am Abend kommen sie wieder heim zur elterlichen Wohnung.

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