Bukarester Gemeindeblatt, 1923 (Jahrgang 15, nr. 1-52)

1923-10-28 / nr. 43

BUKARESTER GEMEINDEBLATT 214 No. 43 den Tag sehnlich herbeiwünschte, der die Eröff­nung des Waisenhauses stiftungsgemäss möglich machte. Als das Stiftungskapital im Jahre 1897 auf 300.000 Lei angewachsen war, beschloss der Gemeindevorstand, unverzüglich an die Verwirk­lichung des Planes zu gehen. Es hat viel Fragen und Verhandlungen gekostet, bis der rechte Platz und das rechte Haus gefunden war. Um die Aus­lagen für die Erwerbung eines Baugrundes zu sparen, wollte man anfänglich einen unbenutzten Teil des an der Chaussee Kisseleff gelegenen alten Friedhofes als Bauplatz verwenden, ging aber bald von diesem Plan ab, als sich die günstige Ge­legenheit bot, Grund und Häuser in der Str. Puţu cu Plopi No. 4, 6, 8 für 77,000 Lei käuflich zu erwerben. Während auf dem Grundstück No. 8 der Neubau der Kleinkinderschule aufgeführt wur­de, genügten die auf No. 4 (u. 6 vorhandenen Ge­bäude nach Vornahme einiger baulichen Verände­rungen vorläufig für die Unterbringung von 12 Knaben und 12 Mädchen in gesonderten Abtei­lungen, ja man hatte sogar noch einen Raum für die Suppenküche frei, aus der arme alte Leute und bedürftige Schulkinder mittags gespeist werden konnten. Die Verwaltung des Waisenhauses wurde vom Gemeindevorstand einem aus seiner Mitte gewähl­ten fünfgliederigen Ausschüss übertragen, der am 21./2. Februar 1898 seine erste Sitzung abhielt und hauptsächlich über die vorzunehmenden bauli­chen Veränderungen verhandelte. Die folgenden Sitzungen beschädigten sich mit der Frage einer einfachen, aber soliden und zweckentsprechenden Einrichtung der Anstalt sowie mit der Abfassung der ersten Satzungen und Festsetzung einer Haus­ordnung. Während diese im allgemeinen mit den Forderungen ähnlicher Anstalten übereinstimmt, weichen die Satzungen gerade in ihren Haupt­punkten, die die Organisation betreffen, wesent­lich ab. So z. B. wird die Leitung beider Abtei­lungen nicht einem Ehepaar übertragen, wie es in anderen Waisenhäusern üblich ist, sondern die Mädchenabteilung einer Diakonissin, die gleich­zeitig die wirtschaftliche Leitung hat, und die Knabenabteilung einem Hausvater. Dass bei ei­ner derartigen Doppelleitung Unzuträglichkeiten nicht zu vermeiden sind, wird jeder zugeben müs­sen, der in ähnlichen Betrieben gearbeitet hat und in Erziehungsfragen Bescheid weiss. Die Einweihung des Waisenhauses wurde mit der der Kleinkinderschule verbunden und fand am 1. /13. November 1898 in Gegenwart zahlreicher Gemeindemitglieder und in Anwesenheit der ho­hen Vertreter der Schutzmächte der Gemeinde statt. Die Ansprache hielt Pfarrer H. Meyer über das Textwort: „Wer ein solches Kind aufnimmt in mei­nem Namen, der nimmt mich auf“, worauf der damalige Gemeindepräsident H. W. Pastor in feierlicher Weise die Anstalten der Fürsorge der Diakonissen übergab. Am Tage der Eröffnung zählte die Mädchen­abteilung 9, die Knabenabteilung 5 Zöglinge. Im Laufe des Jahres wurden noch 3 Mädchen und 2 Knaben aufgenommen, sodass die Gesamtzahl der Waisen­kinder 19 betrug. Die Leitung der Mädchenabteilung lag in den bewährten Händen der Diakonissin Anna Nitzek, während für die Knabenabteilung der in einem Brüderhaus für diesen Beruf vorgebildete Diakon H. Klose gewonnen worden war. Trotzdem die in den Satzungen vorgesehene Höchstzahl von 24 Zöglingen in den ersten Jahren nicht eingehalten wurde, weil man für ausserordent­liche Fälle in jeder Abteilung je einen Platz offen hielt, so hatte die junge Anstalt do:h schon nach 2 Jahren mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen. Die Annahme, dass sich auch solche Waisen finden würden, die einiges Vermögen besitzen und ein jähr­liches Pflegegeld von 400 Lei würden zahlen können, hatte sich als irrig erwiesen. Zwar fanden sich Freunde und Gönner, die der Anstalt kleinere und grössere Unterstützungen in klingender Münze oder in Naturalien zufliessen Hessen, aber all das reichte nicht aus, die Betriebskosten zu decken. Trotz Spar­samkeit schloss schon das zweite Jahr mit einem Fehlbetrag ab. Es darf uns dies nicht wundern, wenn wir bedenken, dass das Stiftungskapital, dessen Zinsen zur Erhaltung des Waisenhauses bestimmt waren, nach Ankauf der Gebäude, ihrer baulichen Umänderung und zweckentsprechenden Einrichtung auf 230000 Lei herabgesunken war. Dazu kam, dass die Zahl der um Aufnahme bittenden Voll- und Halbwaisen von Jahr zu Jahr grösser wurde, sodass sich der damalige Waisenhausvorstand veranlasst sah, Mittel und Wege ausfindig zu machen zwecks Her­­beischaffuug der nötigen Mittel, die eine Vergrösserung des Waisenhauses ermöglichen würden. Zunächst wandte man sich mit einem warmen Aufruf an die Gemeindemitglieder, in dem die Notlage der kaum in Gang gebrachten Anstalt eingehend geschildert und die Hilfeleistung all jener angerufen wurde, denen Gott ein übriges geschenkt hatte. Gleichzeitig trat der da­malige Hausvater Herr H, Klose eine Kollektenreise nach der Dobrudscha, seinem früheren Wirkungskreis, an. Der Ertrag dieser Sammlung ergab Lei 264.30. Eine zweite Reise im Sommer 1903 brachte den für damalige Zeiten ansehnlichen Betrag von Lei 1981.57 ein. Dazu kamen von Zeit zu Zeit kleinere Spenden von Gemeindemitgliedern, sodass die wirtschaftlichen Schwierigkeiten einstweilen noch überwunden werden konnten. Inzwischen aber stiegen die Preise der notwen­digsten Bedarfsartikel, die ganze Lebensführung ver­teuerte sich. Die Fortführung der Waisenfürsorge war in Frage gestellt, denn trotz aller Einschränkung reichten die zur Verfügung stehenden Zinsen des Stiftungskapitals zuzüglich der Spenden nicht mehr aus, um die täglichen Bedürfnisse zu befriedigen. Wie ein roter Faden ziehen sich die Verhandlungen über die Lösung der wirtschaftlichen Frage durch die Sitzungsberichte. Immer wieder aber ist es den um­sichtigen und tatkräftigen Männern, denen die Ver­

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