Der Nachbar, 1912 (Jahrgang 64, nr. 1-52)

1912-12-08 / nr. 49

386 so blickt sie bereits am zweiten Sonntag des Kirchenjahres hinaus auf das Ende und das Gericht, auf den lesten Advent des Herrn. Muß das so sein? Haben da diejenigen nicht recht, die­ immer behaupten, die Bibel und das Christentum machten die Menschen unzüchtig für das dies­seitige Leben und ver­wiefen sie vielmehr auf das Jenseits? Aber nicht wahr, wenn es eine Einigkeit gibt, dann ist sie unendlich länger als die kurze Spanne Zeit hienieden, und der Mensch darf doch nicht leben wie das Tier, sondern muß einmal sich verantworten und Rechenschaft geben, und nur wer. Sterbensfreudigkeit hat für sein Todesstündlein, der hat auch Lebensfreudigkeit, zu wirken, so lange es Tag ist. Darum ist es gut, daß der Advent uns erinnert auch an das Wiederkommen des Herrn. Aber es ist doch auch ein sehr tröstliches Wort: unser Gott kommt und sch­weiget nicht. Also wird das ergreifende Rufen doch einmal erhört, das so viele Leidende schon dem Sänger des 39. Blalms nachgebetet haben: „Höre mein Gebet, Herr, und vernimm mein Schreien und sch­weige nicht über meinen Tränen; denn ich bin beides, dein Pil­­grim und dein Bürger, wie alle meine Väter.“ Überhaupt aber, hast du denn schon einmal ernstlich nachgedacht, was es sagen will: Gott hat zu uns geredet? Er hat sich also nicht in emwiges Schweigen gehüllt, und wir, wir Glück­­lichen, sollen seine Sprache verstehen können. Da redet er zu uns in der Natur, die uns umgibt. Da kannst du seine Stimme vernehmen, wenn du in der Mittagsglut des Sommers fern von dem Lärm der großen Stadt durch die unwogenden Kornfelder schreitest, und kannst seine Stimme ebenso vernehmen, wenn das große Schweigen im Walde dich umgibt und der Böglein fettes Lied verstummt ist und das legte welke Blatt ganz leise herniederfällt vom hohen Baum. Du kennst doch die andere Stimme Gottes auch, die zu dir redet in deinem Gemissen; und es muß auch in dem unruhigen Haften und Treiben der Wochen vor Weih­­nachten hier und da einmal so stille in dir werden, daß du auf diese Gottesstimme laufh­est. Aber Gott sei Dank, er hat noch anders zu uns ges redet, nicht bloß von feiner Allmacht und Weisheit und Gerechtigkeit, sondern auch von feiner erbarmenden Gnade. Das ist seine höchste und herrlichte Offenbarung, wie wir sie nun vor uns haben in der Heiligen Schrift; und dieser Rede unsers Gottes zu uns wollen wir in der lieben Adventszeit uns doch besonders getrösfen und freuen. Bor geiten hat er manchmal und auf mancherlei­ Weise zu den Rätern geredet durch die Propheten. Der legte unter ihnen, auch der Zeit nach), ist Maleachi; unter seinem Buche lesen wir: Ende der Bücher des Alten Testaments. Es kam eine lange prophetenlose Zeit, vierundeinhalb Jahrhundert ; dann brach Gott sein Schweigen. Der Mann trat auf, der nach Maleachis Weissagung dem Herrn den Weg bereiten sollte, endlich wieder ein Prophet, Johannes der Täufer. Und­ dann kam der Herr selbst.. Gott hat am­ lebten in diesen Tagen zu uns geredet durch den Sohn. Denn über Zesu von Nazareth tat sich der Himmel auf und ward die Stimme laut, die auch wir noch zu Herzen nehmen sollen: „Den sollt ihr hören! Das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.“ (Gottfesung, Durch Wolkendunkel zum Weihnachtslicht, aasız versoten N an einem Krankenbett, das bald zu einem Sterbe­­n) N bett werden kann, bin auch ich gestanden,“ bes U richtete der Bruder, „aber wenn ich gleich über­­zeugt bin, daß es mit der Haup­tache richtig steht beim alten Thomas, so kann doch der alte M­urrkopf eben das Murren nicht Taffen. Heute war es nahezu kos­misch, wie er bei allem Weh und Ach über seine Schmerzen, die nach der Aussage des Arztes plößlich mit einem Herz­schlag enden können, sich­ereifern konnte über­all die Er­­findungen und Erscheinungen der Neuzeit: Fahrrad, Kraft­­wagen, Höllenmaschinen aller Art, wie er sie nannte. Denn, behauptete er, alles das wären Eingebungen böser Geister; es solle eben den Menschen darüber Hören und Sehen ver­­gehen, und das Denken gehe dann auch mit, und so führen oder jagten und raften sie desto sicherer hinunter. So, und warum denn der liebe Herrgott dies alles zuließe und nicht mit schlagenden Wettern in all dies heidnische oder höllische Getriebe hineinführe, und ob er denn das Weltregiment abgegeben habe, und warum dies und warum das? Bis es mir gelang, ihn mit ein paar kräftigen Bibelmorten zu beschwichtigen. 9, wie man doch bei solchen Gelegenheiten die Siegesmacht des Wortes spürt! — Na, sagte er schließ­­lich, für mich und für Sie währt es ja nicht mehr so lang, dann mögen sie über unsern Staub hinjagen und­­ rafen, und mwill’s Gott, so schauen wir von oben zur Giehrt, Liebe, der gute Alte möchte mich bald zum Gesellschafter droben haben.“ Es Sprachen Bruder und Schmetter noch lange mite einander, indes draußen das Nebelheer ungehindert seinen neuen Eroberungszug fortseßte. Je Düstrer es aber draußen wurde, desto gemütlicher wurde es drinnen in dem einfach aber geschmackvoll ausgestatteten, an englische Art er­innernden Wohnzimmer. Denn in seiner Arbeitszeit als Kaufmann war Herr Qauberg lange in England gerwesen und hatte sich an englische Sitte gewöhnt. Dort hatte er auch in Geschick und Glück seinen Heiland gefunden, den er treu im Herzen trug. Seine Sch­wester war gleicher Überzeugung und Gesinnung, und gemeinsam suchten sie nun, wie sie dem Herrn gefallen möchten. So hatten sie sich das Haus, ein ihnen zugefallenes Erbteil, eingerichtet, ebenso­wohl in Erinnerung an das Land ihrer Arbeitszeit, wie an manches bewegende Ereignis ihres Leben. Eine längere Baufe war eingetreten­, sinnend schauten beide dem mechselvollen Spiel der rotgelben Slammen zu. Unmillkürlich hatten sich beider Gedanken auf einen ges­­einsamen Gegenstand, eine gemeinsame Erinnerung ges­­ichtet, und daß es keine freudige, sondern eine mehrmütige mar, das bezeugte beider Gesichtsausdruck. „Sind es sechs oder sieben Jahre? — sieben, richtig, daß sie so fröhlich noch den Tag mit uns feierte und uns mit dem Erzeugnis ihrer Kunst so gründlich überraschte,“ unterbrach der Bruder endlich das Schweigen. Fräulein Thekla nickte. „Und ein Nätfel bleibt es dem­nach nach menschlichem Verstehen, daß es nachher so rat abwärts gehen konnte, ohne sichtbare Ursache,“ sagte sie, den eingeleiteten Gegenstand verfolgend. „Ja, nach menschlichem Verstehen,“ fuhr Herr Lau­­berg fort. „Aber Gottes Gedanken sind eben höher als ERS

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