Der Nachbar, 1915 (Jahrgang 67, nr. 1-52)

1915-01-24 / nr. 4

Zum 3. Sonntag nach Epiphanias. 304. 4, 10. Sejus sprach zu ihr: Wenn du erkennetest Die Gabe Gottes und wer der ist, der zu dir saget: Gib mir zu trinken, du bätest ihn, und er gäbe dir lebendiges Wasser. Daran liegt es denn auch! Wie viele Tausende gehen in der Christenwelt herum, wie das fama­­ritische Weib, zu dem der Heiland am Brun­­­­nen Jakobs in Sichar die Worte unseres Wertes geredet hat. Er hat genug mit ihr gesprochen, daß mir wohl einen Blick in ihr Herz zu tun imstande sind. Sie war eine sündige Frau nicht bloß, was für ein Leben mag sie hinter sich gehabt haben, die fünf Männer gehabt, und der, den sie nun hatte, war nicht ihr Mann. Sie war auch eine mühjselige und unglückliche Frau, die unter der Last und Arbeit ihres Lebens Mut und Freudigkeit verloren hatte. Selbst das Wasserschöpfen ist ihr ermüdende Mühe. Darum freilich­ war sie es,­­weil sie den geheimen Grad­el ihrer Sünde im Herzen trug. Die ließ ihr keine Ruhe und die machte sie friedlos, ohne daß sie recht wußte warum. Ich sage, wie viel Tausende gehen so in der Schrittenheit herum. Herzen, in denen es nie recht licht werden will. Sie tun ihre Arbeit und verrichten, was sie müssen; aber: sie haben keine Freude davon und stöhnen höchstens, wie so ihr schwer sie es haben. Bielen unter ihnen geht es vielleicht äußerlich ganz gut. Sie haben ihr Auskommen und sie sind gesund, und in ihrem Hausmesen ist alles in Ordnung. Aber glücklich sind sie dabei nicht. Es fehlt ihnen etwas, sie wissen nur nicht recht, was ihnen fehlt. Ihr Herz ist troßdem friedlos und elend. Und sonderlich, wenn solche Zeiten kommen, wie wir sie jet haben, Zeiten der Heimsuchung und der Angst und der Trauer, da werden sie ganz haltlos. Leidenstage sind heiße Tage; wenn da nicht in der Tiefe des Erdreiches die Wurzeln die Feuchtigkeit holen können, verdorren die Pflanzen, und wenn in der Hite der Trübsal eine Menschenseele nicht in ihrer Tiefe Gottes Frieden trägt. Dann verdorret sie auch. Da hadern sie mit dem, der Wolken und Sonnen­­schein mwechseln läßt nach seiner Weisheit, daß er es nicht nach ihrer tut, und werden hoffnungs- und trostlos unter der Last des Lebens oder lassen alles dumpf und stumpf über sich ergehen und dünken sich die Elenderten unter der Sonne. Und doch steht der vor ihnen, der vor dem Weibe stand und sie bat, Gib mir zu trinken. Es ist ihm ja ge­­wiß Ernst mit feiner Bitte. Ihn dürstete. Aber noch ernter ist es ihm um etwas anderes. Sein feines Ohr hat das verborgene Geutzen Dieses Herzens vernommen. Sein heiliges Auge sieht Hier ein verlangendes Herz unruhig schlagen. Und solchen zu helfen ist er gekommen. Seine Bitte soll ihm Anlaß sein, der Frau mehr zu geben, als sie ihm geben kann. So steht er vor den Menschen. Er bittet: Kommt zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid. Er ruft: Ich bin das Licht der Welt; wer mir nachfolget, wird nicht in Sinsternis wandeln, sondern das Licht des Lebens haben. Er verkündet: Wenn euch der Sohn frei macht, so seid ihr recht frei, folge mir nach, Philippus! Er meint es ganz ernst. Ihn dürftet wirklich nach allen Seelen, die auf der Welt sind. Wenn im Himmel mehr Freude sein wird über einen Sünder, der Buße tut, als über neununds neunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen, wie sollte

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