Acta Litteraria Academiae Scientiarum Hungaricae 7. (1965)
1965 / 3-4. szám - Bibliographia - Hankiss Elemér: Leo Kofler: Zur Theorie der modernen Literatur. Der Avantgardismus in soziologischer Sicht
Bibliographia 483 dies Vorhandene und Überflüssige (um die im gesellschaftlichen Fortschritt verborgenen Gefahren diesmal nicht zu nennen). Es gelang aber dem Bürgertum nicht, den Glauben an den sozialen Fortschritt aus seinem Leben und Bewußtsein ohne weiteres auszuschalten. Denn dieser Glaube war von je her das Allerwesentlichste, das Leitmotiv seiner Weltauffassung, Antriebsmotor seiner jahrhundertelangen Kämpfe, sinn- und inhaltverleihendes Prinzip seines Lebens. Dermaßen, daß sobald dieser Glaube erschüttert wird, sobald er um nichts zu kämpfen hat, hat er auch von der Zukunft nichts zu erwarten, seine traditionelle Betrachtung stürzt auf einmal ein, sein Wertsystem wird verwikkelt, sein Tätigkeitsschwung wird abgebrochen, sein Leben büßt Sinn und Inhalt ein. Es kämpft das Bürgertum seit Jahrzehnten mit dieser weltanschaulich-seelisch-moralischer Krise; und es suchen einen Ausweg aus dieser Krise die bürgerliche Kunst, die Literatur und das Denken. Sie trachten — im wahren Sinne des Wortes mit fieberhafter Eile und Eifrigkeit — zu erforschen, ob es überhaupt möglich ist wiederum Schwung, Sinn und Inhalt zu verleihen dem menschlichen Leben, welches sich von der historischsozialen Entwicklung trennte, oder aber — wie sie es abzufassen pflegen: welches zum letzten Ende der Entwicklung gelangte, im Zustand der Einsamkeit schwebend. Nicht die allgemein gedachte Entfremdung — (die von Kofler oft erwähnten Mechanisierung, Metropolisierung, Massenhaftwerden, Versachlichung der meschlichen Verhältnisse usw., usw. wurden eher zum grundlegenden Erlebnis und zur Quelle der expressionistischen Epoche und Literatur der zehner-zwanziger Jahre) — nicht sie, sondern jene eigentümliche Erscheinungsform der Entfremdung: das Erlebnis des geschichtlich-sozialen Schwungs eingebüßten, in den luftleeren Baum der Zeitlosigkeit gelangten Lebens ist die Hauptquelle, der bestimmende Faktor der Avantgarde-Literatur von Heute. Das bezeugen — neben vielen anderen Momenten — selbst die förmlichen, stylaren und Gattungsmerkmale der Avantgarde-Literatur. Um nur eines von den vielen zu erwähnen: wie aus der Weltanschauung der Klasse der Glaube an die geschichtliche Entwicklung, in gleicher Weise entschwand aus den literarischen Werken die Dimension der Zeit. In der traditionellen bürgerlichen Literatur wälzte, strömte die Zeit reichlich, vollauf, geradezu wahrnembar weiter. Es kennzeichneten die offenen Gattungen die Epoche. Langwierige Romane, in welchen die Fäden der Handlung sich weit über dem Schlußkapitel hinaus schlängelten und verflochten sich in die historische Kontinuität: vereinzelte Momente des Lebensprozesses veranschaulichende, Genrebildern ähnliche und episodistische Novellen, oder lange Erzählungen, die sich nahezu so weit in die Länge zogen, wie die Romane; Dramen mittlerer Gattung, welche die Handlung nie bis zum tragischen Abbruch weiterführten, in welchen sich am Schluß die Spannung löste. — In den Avantgarde-Werken der jüngstverstrichenen Jahrzehnte finden wir von all dem gerade das Gegenteil. Sie stellen nicht den mittleren, in Vergangenheit und Zukunft durchschimmernden Abschnitt eines Prozesses zur Schau, sondern den Abschluß, den letzten Augenblick des Vorgangs. Den Moment, in welchem der Lebensschwung an ein unabwendbares Hindernis anstoßt, oder aber am Rande einer Schlucht stutzt, vor etwas Schauderhaftes zurückschreckt, in einem fürchterlichen Kataklysma zunichte wird. Es wird meistens aus den ersten Zeilen des Romans oder Schauspiels klar - (nicht der weitschweifige, sondern der auf einen einzigen dramatischen Punkt konzentrierende Kleinroman, nicht das Schauspiel mittlerer Gattung, sondern die Folge der Ereignisse schließlich grausam und mit Gewalt zerreißende Tragödie sind eben die repräsentativen Kunstgattungen des Zeitalters) —, daß der Held in eine tragische Grenzlage solcher Art, in eine situation limite geriet. »Jemand m^ißte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet« — damit beginnt Kafka seinen Roman, betitelt ’Der Prozeß’. Millers Agent besinnt sich langsamer, doch wird es endlich dem Bestürzten klar, daß er Zeit seines Lebens falschen Idealen nachjagte; Wilders Helden geraten aus dem vollkommenen bürgerlichen Wohlstand mit einem Male in die neue Eiszeit, welche die Welt mit Vernichtung droht; Camus’ Caligula wird wahnsinnig über die Entdeckung, daß es auf Erden nichts Reines, Edles und Unvergängliches gibt; über dem Kopfe des idiotischen Mädchens des Tennessee Williams reißt man das Haus herab, daß es also endgültig obdachlos in der Welt verbleibt; der kleinbürgerliche Held Ionesco’s nimmt plötzlich war, daß er völlig alleine ist, denn um ihm verwandelten sich alle Leute zum Nashorn; in einem Theaterstück Becketts zeigt selbst der Titel ’das Ende des Spiels’ an; das Thema ist der