Acta Litteraria Academiae Scientiarum Hungaricae 7. (1965)

1965 / 3-4. szám - Bibliographia - Hankiss Elemér: Leo Kofler: Zur Theorie der modernen Literatur. Der Avantgardismus in soziologischer Sicht

Bibliographia Zusammensturz der menschlich-bürger­lichen Lebensform. Wohin, wie weit gelangen die in solch tragische Grenzsituation geratenen Hel­den der Avantgarde-Literatur? Die Alter­egos von Kafka untergehen hoffnungs­los; Willy Loman flüchtet sich in den Selbst­mord; Wilders neuer Adam schöpft aus dem Glauben, daß er kämpfend zu kämp­fen hat, Kraft; die idiotischen und nach Liebe durstenden Helden Williams ver­nichtet die Gesellschaft der ’Gesunden’; Caligula quält — nach dem Funken der Menschenseele und Menschenwürde for­schend — seine Freunde zu Tode und jagt schließlich über Berg und Tal wahnsinnig dem fernen, klaren Mond nach; es warten und warten nur die Helden Becketts, und wissen selbst nicht, auf was sie war­ten; Ionesco’s Bernard versucht ein Mensch unter den zu Tieren herabgekommenen Menschen zu bleiben, doch stürzt sich sein altes Ehepaar, da ihm das Lösen des Lebensrätsels nicht gelungen ist, vom Leuchtturm ins Meer. Und wenn wir die Beispiele weiter aufzählen wollten, wür­den wir eine ganze Skala der modischen, zumeist in Sackgasse führenden, bürger­lichen Lösungsversuche auffinden, wie etwa ’der moderne Stoizismus’, ’die Über­nahme des Lebens’, 'der Sprung in die Schlucht’, ’das Lockern der Komplexe’, 'das Wiedererwachen der Mythen’ und andere mehrere. Was ist bei diesem Anblick zu tun? Die Feststellung, daß die Lösungsversuche der Schriftsteller der Avantgarde und der bürgerlichen Denker im Hintereinander gescheitert sind, daß es ihnen bisher nicht gelungen ist für das von der sozialen Ent­wicklung und Gemeinschaft getrennte, in Zeitlosigkeit und Einsamkeit schwebende Leben Sinn und Inhalt zu finden: all das genügt an sich keineswegs. Und die Er­wähnung der Menschen und Gesellschaft, Gegenwart und Zukunft harmonisch ver­einenden klassischen Literatur voller Nost­algie — ( Kofler neigt zu dieser sympathi­schen Schwäche) — löst die Frage gewiß nicht. Keine ästhetischen Prinzipien sind genannten Schriftstellern und Denkern entgegenzustellen, sondern eine Lebens­betrachtung; es muß ihnen entgegengestellt werden, was sie verleugnet haben: der Glaube an den gesellschaftlich-menschli­chen Fortschritt, an das unausgesetzte Vorwärtskommen des Lebens. Man muß aber dessen bewußt sein — worauf ge­rade die sich vor unseren Augen abspielende Krisis des Bürgertums ermahnt, — daß die­ser Glaube dem Leben bloß dann bleiben­des Ziel, bleibenden Sinn zu verleihen ver­mag, wenn er außer Anhäufung der rein materiellen Güter auch den endlosen Wunsch nach menschlicher Erkenntnis und Vollentfaltung umfaßt. Diese erweiterte Deutung der ge­sellschaftlich-menschlichen Entwicklung wird nach und nach zu stets dringender, imperativer Aufgabe für die Schriftsteller und Denker unserer Zeit. Denn es kann innerhalb weniger Jahrzehnte nicht nur eine einzelne Gesellschaftsschicht, son­dern unsere gesamte Gesellschaft in eine Lage gelangen, wo das Erwerben materi­eller Güter an sieh kein Ziel, keinen Sinn, keinen Inhalt dem Leben zu verleihen vermag. Die sich um die Moral, um die neue Lebensform, um die neuen Lebens­ideale erhebenden Diskussionen quellen gewiß aus dieser Erkenntnis hervor. Elemér Hankiss

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