Viola Boros (Galerie im Rathaus, Stadt Lippstadt, 1995)

Von der Welt des Mythos zur wahren Welt Mit ihren drastisch-naturalistisch gemalten Porträts von blutigen Hühner- Fisch- und Schweinsköpfen erinnert Viola Boros an alte Opferrituale und verweist auf den Menschen als gepeinigte und totgeweihte Kreatur. Damit reiht die Künstlerin sich ein in eine Stillebentradition, die im 1 7. Jahrhundert in den Niederlanden begann und sich mit der existentiellen Schlachthauskunst von Chaim Soutine und Francis Bacon fortsetzt. In Viola Boros' Installationen ist dagegen von echtem Fleisch und Blut nichts mehr zu spüren, denn hier erscheinen die Tiere deutlich als mediatisierte Abbilder von Urbildern. Die Archetypen, auf die die Künstlerin sich bezieht, führen vom antiken Mythos zur modernen Massenkultur. In der Installation "Raumteiler" spielt sie mit der Verführungskraft der billigen Waren­ästhetik, indem sie ihre Hasenkollektion in rötliches Licht taucht. Eine Menagerie von identischen Gipshäschen verteilt sich brav und regelmäßig auf den Regalbret­tern des Raumteilers, dessen zarte ornamentale Gitterstruktur mit grellem Orange übermalt wurde. Alle Häschen schauen in dieselbe Richtung, mit dem obligaten Osterei zwischen den Pfoten. Der Hase, der in der Antike als ursprüngliches Sym­bol der Fruchtbarkeit das Begleittier der Liebesgöttin Aphrodite war, ist zum Mas­senartikel mutiert. Glaube und Verehrung entfalten sich im Konsumgenuß, und hin­ter dem künstlichen Liebeszauber versteckt sich die nackte Libido der Readymades. Auch die Herdentiere der Installation "100 Lämmer" sind offensichtlich derselben Gußform entsprungen und unterscheiden sich nur durch die Farbe voneinander. Sie sind um große metallene Futterbehälter und auf dem Boden liegende Schwarz­lichtröhren gruppiert und von einem Holzstall umgeben, der überdimensional wirkt. Das Lamm, ein uraltes Symbol für Wachstum, Unschuld und Reinheit, steht in der christlichen Ikonologie für Christus und die gläubige Gemeinde. Doch die Lämmer in Viola Boros Installation sind versteinert. Mit ihren Bildern und Installationen äußert Viola Boros ihr Unbehagen an der Kultur und appelliert an unser Selbstverständnis im Spannungsfeld von Masse und Individuum, menschlicher Verantwortung und animalischem Instinkt. Mit einem Wesen, das weder Gott noch Mensch noch Tier ist, beschäftigt sich die Künstlerin in ihrer Bilderserie zur mythologischen Minotaurusfigur. Minotaurus wurde gezeugt von Pasiphae, der Gattin des kretischen Herrschers Minos, und einem weißen Stier, der dem Minos als Opfertier von Poseidon geschickt worden war. Um das skandalöse Mischwesen dem Blick der Gffentlichkeit zu entziehen, wurde Minotaurus ins Labyrinth von Knossos verbannt.

Next