Pester Lloyd, Dezember 1898 (Jahrgang 45, nr. 289-302)

1898-12-01 / nr. 289

Budapest, 30. November.­­ Der Organisation der Landes- und der Diözesan­­behörden folgen in dem, von dem ersten Katholiken-Kongresse angenommenen Elaborat über die ungarländische Kath­o­­liken- Autonomie die Bestimmungen betreffend. Die Behörden und Organe der Dechanate und­­ der­ Kirchen­­gemeinden. In jedem Dechanat wird ein Bezirksrath gebildet, dessen ordentlicher Präsident der Dechant ist. Mitglieder dieser Körperschaft sind die geistlichen und die weltlichen Präsidenten und überdies je ein weltlicher Delegirter der einzelnen, im Bezirke befindlichen Kirchengemeinderäthe. Aus der Reihe der weltlichen Mitglieder wählt der Bezirksrath seinen weltlichen Präsidenten. Zu den wichtigsten Agenden dieser Behörde gehört die Durchführung der Wahlen für den Diözesanrath. Die Wahl der geistlichen Delegirten erfolgt­e unmittelbar am Like­ des Dechanten in geheimer Abstim­­mung, doch können die Voten auch versiegelt überjenbdet werden. Behufs Vornahme der weltlichen Wahlen wird das Dechanat in so viel Bezirke getheilt, als es weltliche Dele­­­girte in den Diözesanrath zu wählen hat. Jeder dieser Bezirke wählt dann an dem vom Dechanatsrath hinzu bestimmten DTermin und­ vor der von diesem entsendeten BWahlkommission je einen Delegirten. Die Mandate sämmt­­licher Gewählten werden vom Dechanatsrath ausgestellt. . Eine nahezu ausschließlich vermittelnde Thätigkeit versieht der Dechanatsrath Hinsichtlich der Volksschul­­und der Vermögens-Angelegenheiten der Kirchengemeinden, indem er die bezüglichen Berichte prüft, begutachtet, ’eventuell‘, richtigstellen läßt, zur Entscheidung jedoch dem Diöhtefanrath, unterbreitet. Einen selbstständigen Wirkungs­­kreis hat der Bezirksrath nur insofern, daß er die Pfarr­­benefizien im Falle der Bazanz verwaltet und dem neuen­ Benefiziaten übergibt. Er entscheidet ferner Beschwerden, welche­­ zwischen den Kirchengemeinden und ihren An­gestellten auftauchen und als. Behörde zweiter uftanz über... die. Nekurse, welche, gegen Erkenntnisse und Ber­fügungen des Kirchenrathes ergriffen wurden. In all diesen Fällen haben­ die Vertreter der betreffenden Ge­meinden blos ein. votum consultativum. Behufs tafcherer Erledigung feiner Agenden kann der Bezirksrath einen ständigen Ausschuß einfegen, dessen Wirkungskreis er selbst bestimmt. Auch in­ diesem Ausschusse führen die Präsidenten des Bezirksrathes den Borsig. Die Situngen des Dekanatez­rathes finden­ in der Regel Halbjährlich statt­­ zu­ ihrer Beschlußfähigkeit.. ist die­­ An­wesenheit von mindestens Drei geistlichen und sechs weltlichen Mitgliedern nothmendig. Die Basis der ganzen autonomen Organisation bildet die Autonomie der Kirchengemeinden, die ihre Rechte und Pflichten in ihren Versammlungen und­­ durch den Kirchen­­­­gemeinderath ausüben. Jeder katholische Mann, der mindestens 24 Jahre, alt ist, seinen­­ Verbindlichkeiten gegenüber der Kirche und der Schule nachkommt, nicht in­ Kriminalu­nter­­suchung oder unter einer Kriminalstrafe steht, und nicht­­ geistesfrank ist, ist Mitglied der Kirchengemeinde-Versamm­­lung. Diese hat drei Präsidenten, welche auch in dem Kirchen­­gemeinderath in dieser Eigenschaft fungiren. Der eigentliche, geistliche Präsident ist der Pfarrer, der weltliche Präsident der Patronatsherr, und dort, wo mehrere Patronatsherren sind, deren Vertreter. Meberdies wählt der Kirchengemeinde­­rath aus der Reihe seiner Mitglieder einen zweiten welt­lichen PVräsidenten. Der Wirkungskreis der Kircher­gemeinde- Dersammlung ist ein sehr geringer. I­n dieser Versammlung wird alle fünf Jahre die unmittelbare, öffentliche Abstim­­mung für Die Wahl des weltlichen Delegirten für die Landes­­versammlung, und­­ hier­"werden von drei zu drei Jahren die Mitglieder des Kirchengemeinderathes gewählt. Bezü­glich der ersteren Wahl wurde behufs Vermeidung krafter Unzu­­söimmlichkeiten die Bestimmung aufgenommen, daß die für den erwähnten Delegirten abgegebenen Stimmen einer Gemeinde nicht gezählt werden, wenn bei der Wahl ein Deißbrand getrieben wurde, den die Gemeinde hätte ver­­hindern können. Für die Wahl in den­­ Gemeinderath besigt jeder Wähler, der Schreiben und lesen kann, auch das passive­ Wahlrecht. Diese Wahl erfolgt per acclamationem, auf Wunsch von zehn Wählern aber durch Abstimmung. Gegen Die Giltigkeit der ganzen Wahl kann an den Dechanatz­, gegen die Wahl Einzelner aber an den Gemeinderath innerhalb acht Tage der Nelurs ergriffen werden. Im Sonstigen Hat Die Gemeindeversammlung nur noch das Jahresbudget festzu­­stellen und über nothwendige größere Ausgaben zu ent­scheiden. s· Den wichtigeren Theil der Agenden Hat Hinsichtlich der Autonomie der Kirchengemeinden der Gemeinderath zu­­ ver­sehen. Diesem gehören von Amts wegen als Mitglieder an: der " Pfarrer, die Kapläne, die ordentlichen Lehrer der katholischen Zementarschulen, beziehungs­weise Die Drei ältesten Lehrer und die Vertreter der Übrigen in dem. DVer­­hältnisse, daß je fünf weitere Lehrer alle drei Jahre einen Vertreter wählen. Mitglieder des Gemeinderathes sind ferner der katholische Patronatsherr, beziehungs­weise. Der von mehreren Patronatsherren gewählte Vertreter und Die von der Gemeindeversammlung gewählten Gemeinderäthe, deren Mam­malzahl je nach der Geelenzahl der­­ Kirchen­gemeinde zwischen 12 und 100 variitt. Der Gemeinderath ist mir dann beschlußfähig, wenn mindestens ein Drittel seiner Mitglieder anwesend ist. Die Filialen bilden mit der Muttergemeinde zusammen einen Gemeinderath, doch wählen sie eigene Näthe. Der Gemeinderath hat die Wählerliste der Gemeinde stets in Evidenz zu halten und richtigzustellen. Er verfügt und leitet die Wahlen in der Gemeinde­­versammlung; er wählt die weltlichen Delegirten für den Dechanatsrath und für die Diözesanversammlung. Der Gemeinderath hat ferner einen ausgedehnten Wirkungskreis in Angelegenheiten des Unterrichtswesens und der Ver­­mögensverwaltung. In diesen fallen die unmittelbare Wahl der Lehrkräfte für die Gemeindeschulen, die Aufsicht über diese Schulen, der Vollzug der einschlägigen Gehege­­ und der Verordnungen der Kirchenverwaltung und die Ver­­anlassung der Sanirung wahrgenommener Mängel. Der Gemeinderat h­­at ferner für die Instandhaltung und Sicherung des gesammten Kirchen-, Schul- und Pfarr­­vermögens zu sorgen, die Fundationen­­ zu erhalten und ihren Sweden entsprechend zu verwenden. Neue Stiftungen sind dem Diözesanrath vorzulegen. Sollten größere Bauten oder andere außerordentliche Bälle die Uebernahme einer größeren valt erherrschen, so muß die Gemeindeversammlung unverzüglich einberufen und ihr die Trage zur Entscheidung vorgelegt werden. Der Kirchengemeinderath besorgt die Bemessung und Eintreibung der S Kirchengemeindesteuer und erledigt gegen diese etwa erhobene Reklamationen. Sie bereitet das Budget vor und überprüft die Schlußrechnungen, die sie dann an den Diöhtesanrath leitet. Sie wählt einen Kurator und im Nochfalle auch einen Vizekurator, wie auch die übrigen Beamten, welche die­ Gemeinde-Angelegenheiten zu führen und zu versehen haben. Bei der Wahl der mit der Geldgebahrung zu betrauenden Beamten muß auf die materiellen Verhältnisse der Bewerber Nachsicht genommen und die Wahl dem Dech­anatsrath zur Bestätigung vorgelegt werden. Schließlich kan der Gemeinderath einzelne, aus den Zilialen­ gewählte Mitglieder damit betrauen, gewisse Agenden in der betreffenden Tochtergemeinde zu versehen. Als Anhang enthält das Statut noch­iedergangsbestimmungen, Die jedoch, da sie nur die erste Organisation betreffen, des allgemeinen Inperesses entbehren. Wir können ung­nüglich, wie wir es uns vorgenom­men, hier jeder Kritik enthalten. Die Thatsache, daß Dieses Statut zur allerhöchsten Genehmigung gar nicht unterbreitet wurde, bemeist zur Genüge, daß die leitenden Prinzipien und Die zu deren Ausgestaltung dienenden Bestimmungen beim weiten nicht die richtigen sind. Weder Die Kirche, no­ die Krone fünnen sich eine solche Verkürzung ihrer Nechte gefallen lassen. Aber auch vom Staate, von der Regierung kann Fein ernst Dentender es verlangen, daß sie selbst die Hand zur Bildung eines ähnlichen Staates im Staate bieten, daß sie aller ihrer Befugnisse in so wichtigen Angelegenheiten sich freiwillig begeben sollen. Umso lebhafter muß man aber münschen, endlich jenes Elaborat kennen zu lernen, das die Grundlage des neuen Statuts für die katholische Autonomie bilden soll. Die Namen der Mitglieder des Neuner-Romitgg, ihre Liebe für Kirche und Baterland, ihre Hochachtung Für die altererbten Nechte der Krone sind gewiß hinreichende Bürgschaft dafür, daß sie bestrebt waren, ihre schwierige Aufgabe mit dem nöthigen Ernst und guten Willen zu lösen. C8 wäre nur zu münchen, daß ihnen Dies au­ gelungen sein möge ! Zum Schlusse unserer Erörterungen müssen wir dieses Komite gegen einen Vorwurf in Schuß ‚nehmen, der­ in Folge­ unserer Bemerkungen gegen dasselbe erhoben wurde. In einem Delatte wurde nämlich­ die Frage aufgeworfen, wer das Komite ermächtigt habe, seinen ersten Entwurf dem Kultusminister und dem Fürstprimas vorzulegen, bevor die Siebenundzwanziger-Kommission’ Gelegenheit hatte, dieses zu überprüfen. Vor Allem muß man sich verwundern, daß diese Frage exit­iegt gestellt wird, obwohl das Komite selbst diesen, so viel wir willen, einhellig gefaßten Entschluß gleich nach Fertigstellung des Entwurfs bekannt gab. Was aber das Wesen der Frage betrifft, glauben wir, daß das Komite diesem Vorwurf ruhigen Ge­wissens Stand zu halten vermag. Der Auftrag, mit dem es entsendet wurde, ging dahin, der genannten Kommission einen zur Diskussion reifen Entwurf vorzulegen. Dies geht nun gewiß voraus, daß das Elaborat, so weit es eben möglich, auch schon etwaige Wünsche der wichtigsten maßgebenden Faktoren mit in Be­­welche Wünsche in konkreter Form aber nur ­­tracht ziehe, ,. . . auf Diese Weise in Erfahrung gebracht werden könnten. Und wenn endlich alle betheiligten Kreise es ohne Einräde geschehen Tieken, daß Das Nemmer-KomitE im Laufe der ersten Berathungen von den Fachreferenten des Ministeriums Informationen entgegennahm, kann sicherlich auch der jeit in so unbegründeter Weise gerügte Schritt nicht den Gegen­­stand eines ernsten Vormurfs bilden. —= Heute Nachmittags fand ein Ministerrath­ statt, an welden sämmtliche Mitglieder des Kabinets theilnahmen. — Einige Morgenblätter haben heute­ auf Grund einer teles­graphischen Meldung aus Wien die Nachricht gebracht, daß Landes­­vertheidigungs-Minister Baron Géza Fejérváry in Wien von Gr. Majestät in Privataudienz empfangen wurde. Wie wir aus kon­­petenter Duelle erfahren, entspricht diese Mittheilung nicht der Wahrheit, da der Landesvertheivigungs-Minister während seines lesten Aufenthaltes in Wien nicht in Audienz empfangen wurde. — Der Adresentiwurf der Opposition wird von der in Hermannstadt erscheinenden „Trübung” mit großer Freude begrüßt, doch von einem Gesichtspunkte, der den Unterfertigern des Ent­wurfes kaum behagen dürfte. Das genannte Blatt schreibt: Die an die Krone gerichtete Adresfe der ungarischen Opposition hat große prinzipielle Bedeutung Dasselbe was wir in jenem Mem­os randum gethan haben, für welches unsere Leute zu K­erkerstrafen verurtheilt wurden, ba8 thut fest nach sehs Jahren die ganze ungarische Opposition: sie verlangt die Intervention der Krone, EN RBEEEREN ER TÄSERM­REHS RL TRENNT WERBUNG RER 23 BE ++ + fej ++ + ürst Bismarck über das Deuts­ch­ áfter­­ An dem zweiten Bande des soeben erschienenen Werkes „Sedanten und Erinnerungen“ von Fürst Otto Bismarck berichtet Fürst Bismarck über die Einleitungen zur Err­ichtung des deutsch-österreichisch-unga­­­rischen Bündnisses und schildert in einem Briefe an den König Ludwig von Baiern die Schwierigkeiten, welche dabei zu überwinden wären. Daran knüpft der Fürst die Gedanken über den Werth und die Bedeutung des Bündnisses, welche ihn auf der Fahrt von Gastein nach Wien beschäftigten. In diesem Abschnitte heißt es: " + + + ++ + reichlich-ungerische Bündeiß: „Auf der langen Fahrt von Gastein über Salzburg und Linz wurde mein Bemwußtsein, daß ich mich auf rein Deutschem Gebiete und unter deutscher Bevölkerung befand, dur­ die entgegenkommende Haltung des Bublitums auf den Stationen vertieft. In Linz war die Masse so groß und ihre Stimmung so erregt, daß ich aus der Sorgniß, in Wiener Kreisen Mißverständnisse zu erregen, die Bor­hänge der Weinter meines Wagens vorzog, auf seine der wohl unwollenden Kundgebungen reagirte und abfuhr, ohne mich gezeigt zu haben. An Wien fand ich eine Ähnliche Stimmung in den Straßen, die Begrüßungen der dichtgedrängten Menge waren so zusamm­en­­hängend, daß ich, da ich in Zivil war, in die unbequeme Nothmen­­digkeit getieth, die Fahrt zum Gasthofe so gut wie mit bloßem Kopfe zurückzulegen. Auch während der Tage, die ich in dem Gast­­hofe zubrachte, konnte ich mich nicht am Fenster zeigen, ohne freund­­liche Demonstrationen der dort Wartenden oder Vorübergehenden hervorzurufen. Diese K­undgebungen vermehrten sich, nachdem der Kaiser Franz Sofer mir die Ehre erzeigt hatte, mich zu besuchen. Alle diese Erscheinungen waren der ungmeideutige Ausbruch des Wunsches der Bevölkerung der Hauptstadt und der durchreisten deutschen Pror­vinzen, eine enge Freundschaft mit dem neuen Deutschen Reiche als Gig­anatur der Zukunft beider Großmächte sich bilden zu sehen. Daß dieselben Sympathien im Deutschen Reiche im Süden noch mehr als im Nor­den, bei den Konservativen mehr als bei der Opposition, im kathol lichen Westen mehr als im evangelischen Osten der Blutsver­wandt­­schaft entgegenkamen, war mir nicht zweifelhaft. &3 ist möglich, daß der Slavische Theil, Durch den in Gestalt der Czechen die urdeutsche Bevölkerung der österreichischen Stammlande von den nordwestlichen Landsleuten getrennt, is, die Wirkungen, die nachbarlichen Reibun­­gen auf Deutsche gleichen Stammes, aber verschiedener dynastischer Angehörigkeit auszuüben pflegen, abge ihmwäht und das germanische Gefühl der Deutsch-Oesterreicher gekräftigt hat, das Dur den Schutz, den historische Kämpfe hinterlassen, wohl verdedt, aber nicht erstickt worden it. Ich fand bei dem Kaiser Franz Josef eine sehr buldreiche Aufnahme und die Bereitwilligkeit, mit uns­­ abzuschließen. Um mir der Zustimmung meines allergnädigssten Heven zu versichern, hatte ich Schon­­ in Gastein einen Theil der für die Kur bestimmten Seit am Schreibtische zugebracht und außeinandergejegt, der möglichen gegen uns gerichteten Koalitionen einzuschränken, und daß der zmweltmäßigste Weg dazu ein Bündniß mit Oesterreich sei. Ich hatte freilich wenig Hoffnung, daß­ der todte Buchstabe meiner Abhandlungen die mehr auf Gemüthsregungen als auf poli­­tischer Er­ägung beruhende Auffassung Se. Majestät ändern werde. Der Abschluß eines Vertrages, Desfen wenn­­ auch Defensives, Doc friegerisches Ziel, ein Ausdruck des Mißtrauens gegen den Freund und Neffen war, mit dem er eben in Alejandromo von neuem unter T­hränen und in der vollsten Aufrichtigkeit des Herzens die­­ Versiche­­rungen der althergebrachten Freundschaft ausgetauscht hatte, ‚lief zu sehr gegen die ritterlichen Gefühle, mit denen der Kaiser sein Ver­­ältniß zu einem ebenbürtigen Freunde auffaßte. Ich zmweifelte zwar nicht, daß die gleiche inh­altlose Ehrlichkeit des Empfindens bei dem Kaiser, Alexander vorhanden war; aber ich wußte, daß er nicht Die Schärfe des politischen Wrtheilg und nicht Die Arbeitsamkeit­­ besaß, die ihn dauernd gegen die unaufrichtigen Einflüsse seiner Umgebung gehecht hätte, auch nicht die gemissenhafte Zuverlässigkeit in persön­­lichen Beziehungen, die meinen hohen Herrn auszeichnete. Die Offen­­heit, die der Kaiser Nikolaus im Guten wie im Bösen berriefen­den reis, hatte, war auf die weichere Natur seines Mtacfolgers nicht voll­­ständig übergegangen. Auch weiblichen Einflüssen gegenüber war die Unabhängigkeit des Sohnes nicht auf derselben Höhe wie die des Vaters. Nun ist aber die einz­ige Bürgischaft für Die Dauer der russischen Freundschaft die Persönlichkeit des regierenden Kaisers, und sobald legtere eine minder sichere Unterlage gewährt, als Alex­­ander­­, der­ 1813 eine auf demselben­ Throne nicht immer voraus“ anfeßende Treue gegen das preußische Königshaus bewährt hat, wird man auf das wulfische Bü­ndniß, wenn man feiner bedarf, nicht jederzeit im vollen Maße des Bedürfnisses rechnen können. · ·Schon im vorigen Jahrhundert war es gefährlich,,auf die zwingende Gewalt eines Bündnißtextes zu rechnen,wenn die Ver­­hältnisse,unter denen er geschrieben war,sich geändert hatten; heutzutage aber ist es für eine große Regierung kaum möglich,die Kraft ihres Landes für ein anderes,befreundetes Volk einzusetzen, wenn die Ueberzeug­­ng des Volkes es mißbilligt.Es gewährt des­­halb der Wortlaut eines Vertrages danun wenn er zu­r Kriegführung zwingt nicht ihr die gleichen Bürgschaften,wie zur Zeit der Kabinetskriege,die mit Heeren von 30.000 biss6.000 Mann geführt wurden;ein Familienkrieg,wie ihn Friedrich Wilhelm II.für seinen Schwager­ in Holland füh­rte,ist heute schwer in Szene zu setzen und für einen Krieg, wie Nikolaus ihn 1849 in Ungarn führte, finden sich die Vorbedingungen nicht leicht wieder. Indessen ist auf die Diplomatie in den Momenten, wo es sich darum handelt, einen Krieg herbeizuführen oder zu vermeiden, der Wortlaut eines Flaren und tiefgreifenden Vertrages nicht ohne Einfluß. Die Bereitwilligkeit zum zweifellosen Wortbruche pflegt auch­ bei sophistischen und ge­waltthätigen Negierungen nicht vorhanden zu sein, so lange nicht die force majeure unabmesslicher I Interessen eintritt. Die Erwägungen und Argumente, die ich dem in Baden befindlichen Kaiser schriftlich aus Gastein, aus Wien und demnächst aus Berlin unterbreitete, waren ohne die gemünschte Wirkung. Un die Zustimmung des Kaisers zu dem von mir mit Andraffy verein­­barten und von dem Kaiser Franz Sofer unter der Vorauslegung, hab Kaiser Wilhelm ,dasselbe thun würde, genehmigten Vertrags­­entwürfe herbeizuführen, war ich genöthigt, zu dem für mich sehr peinlichen Mittel der Kabinetsfrage zu greifen, und es gelang mir, meine Kollegen für mein Vorhaben zu gewinnen. Da ich selbst von den Anstrengungen der legten Woche und von der Unterbrechung der Gastemer Kur zu angegriffen war, um die Reise­ nach Baden Baden zu machen, so übernahm sie Graf Stolberg; er führte die Verhandlungen, wenn aug unter starrem Widers­treben Gr. Majestät, glücklich zu Ende. Der Kaiser war von den politischen Argumenten nicht­ überzeugt worden, sondern ertheilte das­­ Versprechen, den Vertrag zu ratifiziren, nur aus Abneigung gegen einen Personen­­­wechsel in dem Ministerium. Der Kronprinz war von Haus aus für das Österreichische Bündniß lebhaft eingenommen, aber ohne Einfluß auf seinen Vater. Der Kaiser hielt es in seinem ritterlichen Sinne für erforder­­lich den Kaiser von Rußland vertraulich darüber zu verständigen, daß er, wenn er eine der beiden Nachbarmächte angriffe, beide gegen sich haben werde, damit Kaiser Alexander nicht etwa iriihümlich an­nehme, Oesterreich allein angreifen zu k­önnen. Mir fehren Diese Besorgniß unbegründet, da das Petersburger Kabinet­tdon aus unserer Beantwortung der aus Livadia an uns gerichteten Frage willen mußte, daß wir Desterreich nicht würden fallen lassen, durch unseren Vertrag mit Desterreich also eine neue Situation nicht ge­­schaffen, nur die vorhandene legalisirt wurde. Eine Erneuerung der Kaunig’schen Koalition wäre für Deutschland, wenn es in sich geschlossen einig bleibt und seine Kriege geschickt geführt werden, zwar seine verzweifelte, aber doch eine sehr ernste Konstellation, welche nach­ Möglichkeit zu verbüten, Aufgabe unserer auswärtigen Politik sein muß. Wenn die geeinte österreichisch­­deutsche Macht in der Peitigkeit ihres Zusammenhanges und in­ der Einheitlichkeit ihrer Führung ebenso gesichert wäre, wie die russische und die französische, jede für sich betrachtet er sind, so mi­rde ich, au ohne daß Italien der Dritte im Bunde wäre, den gleichzeitigen Angriff unserer beiden großen Nachbarreiche nicht für lebensgefährlich halten. Wenn aber in Oesterreich anti-deutsche Richtungen nationaler oder konfessioneler Natur sich stärker als bisher zeigen, wenn russische Versuchungen und Anerbietungen auf dem Gebiete der orientalischen Politik, wie zur Zeit Katharina’s und Sofef5 IL, hinzutreten, wenn italienische Begehrlichkeiten Desterreich Belis am adriatischen Meere bedrohen und seine Streitkräfte in ähnlicher Weile wie zu Nadegly’s Zeit in Anspruch nehmen sollten, dann würde der Kampf, dessen Möglichkeit mir vorschmebt, ungleicher sein. Es braucht nicht gesagt zu werden, wie viel gefährdeter Deutschlands Lage ers fcheint, wenn man sich aus Desterreich, nach Herstellung der Monarchie in Frankreich, im Einverständniß beider mit der römischen Kurie, im Lager unserer Gegner denkt, mit dem Bestreben, die Er­gebnisse von 1866 aus der Welt zu schaffen. Diese pesiimistische, aber doch nicht außer dem Bereiche der Möglichkeit liegende und durch Vergangenes nicht ungerechtfertigte Vorstellung hatte mich veranlaßt, die Frage anzuregen, ob es ein organischer Verband zwischen dem Deutschen Reiche und Desterreich- Ungarn empfehle, der nur mie gewöhnliche Verträge kündbar, sondern der Gejeggebung beider Reiche einverleibt und nur durch einen neuen Mit der Gesetgebung eines derselben lösbar wäre. Eine solche Afsekuranz hat für den Gedanken etwas Beruhi­­gendes ; ob­­ auch im Drange der Ereignisse etwas Sicherstellendes, daran kann man zweifeln, wenn man sich erinnert. Daß: die theoretisch sehr viel stärker­ verpflichtende Verfassung des heiligen römischen Reiches den Zusammenhalt der deutschen Nation niemals hat sichern künnen, und daß wir nicht im Stande sein würden, für unser Ver­hältniß zu Oesterreich einen Vertragsmodus zu finden. Der in ‚Nich eine­ stärkere Bindefraft trüge, als die früheren Bundesverträge, nach denen die Schlacht von Königgräß theoretisch unmöglich war. Die Haltbarkeit aller Verträge zwischen Großstaaten ist eine bedingte, sobald sie „in dem Kampfe um’ Dasein“ auf die Probe gestellt wird. Keine große Nation wird je zu bewegen sein, ihr Bestehen auf dem Altar der Vertragstreue zu opfern, wenn sie gezwungen ist, zwischen beiden zu wählen. Das Ultra posse nemo obligatur kann doch seine Vertragsflausel außer Kraft gefegt werden und ebenso­­wenig läßt ich durch einen Vertrag das Maß von Gent und Kraft auf­wand sicherstellen, mit dem die Erfüllung geleistet werden wird, sobald das­ eigene Interesse des Grfüllenden dem unterschriebenen Terz und seiner früheren Auslegung nicht mehr zur Seite steht. CS läßt sie Daher, wenn in der europäischen Politit Wandlungen ein­­treten, die für Oesterreich-Ungarn eine antideutsche B Politit als nt + Feuilleton. Eine Rainz-Ware. Wien, 29. November, L. H.i. Josef Rainz hat soeben eine Woche lang das Burg­­theater in Athem ‚erhalten. Das Haus bedurfte dieser Aufmischung, um nicht in das neue Jahr hinüberzuschlummern, wie es in die neue Saison herübergeschlm­mert ist. Rainz war endlich der dringend benöthigte Erfolg; angefigte der Kette von Mißerfolgen, die mir abroflen sahen, könnte man beinahe jagen, der endlich­ einmalige Nichte durchfall. Und das Publikum war selbst gegen Rainz [gon mißtrauisch, an seinem ersten Abend sah man auch etliche halb leere Bänke. Aber er nahm das Rubiikum sofort beim Nochk­opf und ließ es nicht mehr 108, so lange er sprach.­­ Er spielte uns den Mortimer,Franz Moos­,die drei kleinen Morituris Helden Sudermann’s,den Leon in»Wehdem,der lügt" "und«zuletzt den Romeo.Zuallerletzt kam er mit diesem,der für sein­e allererste­ Rolle gilt,mit dem er in Deutschland Schule gemacht­ hat. Nachdem man seinen Romeo gesehen,versteht man erst verschiedene Liebhaber-Jünglinge aus dem Reich,wie den hier angeworbenen Herrn Frank,und weiß,woher sie ihre kleinen Ungezogenheiten haben­, die hier in tragischen Momenten laute Heiterkeit erregen.Es ist Kainzi Nachahmung,die aus Mangel an entsprechender Persönlichkeit Kainzs Parodie wird. Der Mortimer, Franz, Leon und Romeo waren hier noch nicht bekannt. Aber doch sie exit haben die Wiener den ganzen Sainz kennen gelernt, als einen zameiseitigen modernen Menschen und Künstler. Zweiseitig, das ist s­chon sehr vielseitig, in unserer Alles­spezialisirenden Zeit. Seine zwei Seiten nämlich scheiden­ sich nicht glatt, wie zwei Hälften eines Apfels, sondern greifen mannigfach in­einander über, wie der dunkle und der helle Theil der Mondscheibe. 63 entsteht dadurch viel interessantes Hellduntel, in dem allerlei aparte Negungen einander jagen: animalische, gespenstlsche, bös- und gutartige, engelhafte und dämonische. Kainz ist ein Liebhaber, der eigentlich ein Charakterdarsteller ist . Mitterwurzer war ein Charakter­­darsteller, der eigentlich ein Liebhaber war. Man kann der Paralleli­ ffrung dieser beiden großen modernen Schauspieler nicht aus dem Wege gehen. Mitterwurzer und Kainz, gleich große Künstler, waren durch ihre natürliche Anlage grundverschieden. Der ganze Mitterwurzer war hell getönt. Der ganze K­ainz ist dunkel unter­­malt. Die Teufel Mitterwurzer’3 hatten etwas Liebensmiürdiges, die Engel Kainz’ haben etwas Besorgniserregendes. Mitterwurzer war 10 schön, weich, fließend, unwohllautend, sein ganzes Wesen an sichh so überrumpelnd. KRainz it so nicht schön (als Franz bekommt er in den Verz­weiflungsszenen ein fürmliches Bok­airegefiäht), d. h. nicht her» Lömmlichefchön, er it so spröd, herb, scheinbar unausgeglichen, duntel­­stimmig,­ Daß er nicht in Güte überrumpelt, sondern mit Aufgebot allerdings un­widerstehlicher Kräfte zwingt. Wenn Mittermutzer eine mal grob kommen sollte, wie als Gabillon’scher Don, Lope im „Richter von Zalamen“, versagte er, obgleich er vor einem Parterre von Anbetern spielte. Ihm lag das Harte nicht, die Natur hatte alle seine Mittel zu einschmeichelnd geformt. Kainz Dagegen: er spielt selbst den Mortimer, der von den früheren Generationen her nur in ihmwärmerischer Wonne aufgelöst denkbar war, als einen in allen Feuern des Fanatismus gehärteten Sesuitenzögling von hoher Intelligenz, und den Nonteo, den reinen Thoren der Liebe, trat alles Sinnenwahns, als einen Charakter. Das ist es, was seine Kunst so modern macht. Früher nannte das Theater nur angeborene Fächer, die von­einander scharf geschieden waren. Man wurde zum Liebhaber oder zum Charakteristiker geboren. Hatte Einer eine Baßstimme, so mußte er Tyrannen spielen, mit rothen Haaren war ein Liebhaber nicht denkbar, nur ein Verbrecher. Er ging im Schauspielhause zu, wie in der Oper. Die alte italienische frangd«­sische Typenkomödie mit ihren unverrüdbaren „Charakteren“, die na­türlich nur Schablonen waren und nichts Persönliches hatten, wirkte noch bis in unsere Epigonenzeit nach). Uns ist im Anschauen des Kainz’schen Romeo der große Schauspielerentdecker Heinrich Laube eingefallen. Er stand natürlich durchaus auf dem alten Boden. Kam ihm ein noch so großes Talent, das ein Sach mit anderen, als den bherkömmlichen Mitteln spielen wollte, so verpflanzte er den Mann oder die Dame gütlich oder (meistens) mit Gewalt in die Erde eines anderen Faches. Er nannte das „Hinüberdrängen“. Die beiden Gas billen mußten sich das ganz besonders gefallen lassen; sie waren als hoffnungsvolle Liebhaber an die Burg gekommen und starben als berühmte Charakterdarsteller. Von Zerlinen schreibt Laube gleich an­fangs: „seine richtige Liebhaberin“, von Ludwig : „er erwies sich auf der Bühne auch­ nicht als der Liebhaber, der gesucht wurde.” Wäre Kainz an Laube gerathen, so würde er heute gewiß das Lewinsty-Fach spielen und darin berühmt sein. Sein Mensch müßte, daß er auch ein Romeo und Mortimer ist. In unserer unbefangeneren Kunst sieht man die Leute individueller an. CS gibt seine Liebhaberzunft und Böse­­mwichtergilde n­ehr, in die man aufgenommen und auf deren Regeln man eingeschlvoren wird. So viel hat und der Realismus gewüßt, daß wir heute alle Dinge als Mischwesen sehen, merden ja da sogar vermeintliche Elemente durch die Analyse als Zusamm­en­­ießungen entlarvt. Auch der Mensch ist ein Mischmensch. Im Böse­­wicht kann ein Herzenbrecher stehen und hinter einem Täubchengesicht eine Vergiftungsvirtuosin. Die opernhafte Allgemeinheit der Schau­­spieltypen ist uns heute die bodenlose Langmeile. Wir vertragen jegledgterdings keine Fach-Charaktere mehr, die mit vorgeschriebener Maricroute einem „eh’ schon bekannten“ Ziele entgegenküffen oder entgegenmorden. Uns interessiren heute gerade die Mischungen in ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit. Sie ergeben die immer mechselnden Kämpfe der verschiedensten Seelenkräfte, deren Peripetien und am tiefsten zu beschäftigen vermögen. In den Figuren des Haffischen Theaters (Shak­speare ausgenommen) ist dieser psychologische Kriegs­­zustand noch nicht so aufregend zugeseigt, wie unsere nervöseren Nerven sich’3 wünschen; die Figuren behalten noch mehr Typisches als Persönliches. Und da springt denn der moderne Künstler ein und gießt die eigene Persönlichkeit in das vom Dichter geschaffene Gefäß. Er hat aber au­ch­ versäumt, seine Persönlichkeit auszu­­bilden, ihre Misgung so eigen als möglich zu mengen und zu würzen; er behandelt sie mit einer spezifischen Virtuosität. Dieses Selbsteigene, das man in einem Daniton zum ehler rechnete, ist heute die höchste Tugend des Schauspielers. Heute gibt es M­osterrollen, Gabillonrollen, Kainzeollen, nicht aber Naive, Salon-Intriganten, komische Alte. Das ist die neue Charakterkunst, daß der Schauspieler seinen eigenen Charakter darstellt. Nur so kann er sig wirklich aug leben. It er eine reiche Natur, ein findiges Talent, oder gar ein O­riginalgenie, so wird ihm jede neue Rolle nur Anlaß bieten, seine eigene Eigenart in wieder neuen eigenthümlichen Nuancen fdgillern, dunteln, gleißen, reizen zu lassen. Das Versinliche ist das einzig Unmittelbare, Wirkliche,­­ Wahre, Verbürgte. Ob nicht der Dichter dabei zu kur, kommt? Gemäß nicht. Denn Eines ist nie und nimmer auszurotten: die optische Täuschung, auf der die Wirkung jeder Kunst beruht. Vom Zuschauerraume aus projizier sich die Persönlich­keit des Darstellers imm­er wieder in die­ vom Dichter geschaffene Figur zurück. Man glaubt also doch immer den Maxtimer zu sehen, denn Jatob fest sich einig an Ejaw’8 Stelle und der alte Vater merkt es nicht. Was die deutsche Welt so unwiderstehlich für Rainz einnahmn und einnimmt, ist seine Sugend. Nämlich feine Jugendlichkeit. Dieses alte Jahrhundert hat, wie alle reife, feine Freude daran, sich von Jugend umblühen und anmärmen zu lasfen. Die naivere Sinnlichkeit der Jugend, das freie Strömen der „Frühlingsfluthen“, die frischen Blüthenfarben, in die sich alles Thun und Laffen ganz von selber Heidet, all dieser Schmelz, dieses Fluidum, D­ieser Rapport hat seinen eigenen Zauber. Dieser erwirkt auch für Alles Verzeihung, ja die schöne Tollheit wird zum BVerdienst, eine Resthe­it des Unbemüßten stellt sich ein und edelt das Triebleben. An Mar Halbe’s siegreichen Theaterstüd: „Sugend“ hat man es erlebt, ja die Münchener Zeit» schrift: „Sugend“ ist eine Art heiteres Amtsblatt dieser Tendenzen geworden. Und Sofef Rain­­st der­ugendspieler par excellence. Sein Romeo, Leon, ja sein Franz sind jung bis zur Möglichkeit. Sie haben die Knabenschuhe noch nicht ganz aufgetreten, sie haben mahrhaftig etwas Knabenhaftes, ganz wie der dem tödlichen Duell entgegengehende Lieutenant Frishen. Sie haben noch, die Geberden und Naturlaute der vermöhnten Kinder, der ungezogenen Rangen. Menn. Romeo unter Julias Balkon mit emporgestrebten Armen gleich­am zu ihre Hinanzumachjen verjagt, glaubt man ein Rind zu Sehen, das nach dem Monde fangt. Wenn er aus Bruder Lorenzo’­ Zelle Spornstreiks unaufhaltsam zu ihre eilt, lebt in ihm eine Macht des Triebes, wie sie sich nur am Anfang der Schöpfung (der Menschheit wie des Menschen) Fund gibt. Franz Moor spielt mit den bösen Gedanken, wie mit Rinderspielzeug; er bindet sich diese und jene Zarve vors Gesicht, macht Mumu und Tau­mau mit lebensgefährlichen, vatermörderischen Begriffen. Leon ist ganz der ungezogene­unge, der noch mitunter „gebentelt“ werden muß. Der Gothenkönig Teja mird. thatsächlich mit seinem Frauchen zum Rinde und sie fugeln si spielend am Boden herum; es ist uns ganz Har, daß Sudermann das eigens für den Knaben Kainz geschrieben hat. Der Knabe Kainz, das ist er, wie Don Carlos „der Knabe Karl”. Dieser Naturlaut der Jugend nun ist das, was aus Kainz zunächst zu­­ der Jugend, aber auch zum Alter, gesprochen hat. Er wurde alsbald auf­ den Schild gehoben, von Allem, was da strebte und erblühen wollte. Er war der Schauspieler ihrer Hoffnungen, ihrer Kämpfe und­ Siege. Ohne Zweifel hat Mittermwurzer stark auf ihn gewirkt; man hört so manchmal den einen aus dem andern heraus oder sieht ihn ihm an. Aber die Art Beider lag in der Luft, die sie athmeten, in einer Luft der allgemeinen Wiedererneuerung, des stürmischen Werdend und findisch eigensinnigen M Werdenwollens, . . . an das Neugeborene ist ja eigensinnig und will durchaus heraus an das Licht des Lebens. Aber modern ist nicht nur dieser Jugendsinn, sondern auch der Ernst, mit dem diese Kinder ihr Kinderspiel behandeln. Keine Spur mehr von der Gleichgiltigkeit, mit der unsere erbgesessenen, pensions­­berechtigten Darstellungsbeamten ihre Aufgaben erledigen, als K. u.­f, Hofe und Kammer-Bösewicht oder dergleichen, wie seinerzeit der Attentäter Hödel Briefe aus dem Gefängniß folgendermaßen unter Trieb: „Anton Hödel, Attentäter Sr. Majestät des Königs”. Einem Krainz ist es in seiner noch so verspielten Weise blutiger Draft um jedes Detail. Niemals ist ein Schiller’scher Monolog so aus dem Gelbsterlebten heraus gesprochen, vielmehr gespielt, „dargelebt” mor­den. Da ist z. B. die Erzählung Mortimer’s von seinem Entwicklungs­­gang in der Schule der Priester, von seiner Katholischmeldung, von der politischen Weisheit des Kardinals von Guise, von seiner Reise nach Rom und von der Herrlichkeit des Bapstes. Das ist Alles der reine Exnitfall, es ist echter, wirklicher Lebensinhalt, den er vor Maria Stuart ausbreitet, Seelenkchäge, die er sich granmeise blutig errungen hat. Von diesem analytischen Aufgehen in der Darstellung hat man doch in der früheren Kunst seine Spur gehabt. Man hatte die Auf­­gabe, das Ganze als Ganzes zu geben, das war sogar allgemeines Stylgefeg. Man ließ sich von der hochschwellenden Woge Des Pathos tragen und brauchte dazu nur zweierlei: eine ihmwärmerische Gesammte­färbung und viel Lunge, um in dem Schwall den Athem nicht zu verlieren. Der Mutter-Mortimer früherer Zeiten, SYosef Wagner, hatte den Verstand eines Tenoristen; Laube versäumt auch nicht, es in seinem Buche zu konstativen. Heutzutage stehen wir im Zeichen des neuen Naturalismus, am Ende eines naturforschenden Jahrhunderts. Alles hat sich gewöhnt, Alles genau sehen zu wollen. selbst in den Märchendistungen eines Hauptmann ist mit höchst realen Elementen gearbeitet, die traummachen Zustände haben alle Merkmale des wirk­­lichen Vorgehens und Einleuchtens an sich. Wir leben und dichten in Realträumen, unsere Phantasien fragen ss auf Mathematik und Mechanik. Ist die Welt dadurch unpoetischer geworden? Im Gegen­­theil. Die Poesie ist poetischer, sobald sie glaubhafter ist, denn der frittiche Mensch von heute will überzeugt werden, daß jene Gedichtung Wahrheit is. Gerade die Klassi­er haben jebr eine schwere Zeit zu überstehen, sie werden von Künstlern mit Kainz ins Moderne über fett. Aus dem Angeblichen ins Verbürgte, aus dem Vorgespiegelten ins Nachgewiesene. 3 wurde lange Zeit bezweifelt, ob das über­­haupt möglich; heute ist es bewriesen, besonders dur) Mittermurzer und Rainz. Die nachmahsende Schauspielergeneration wird aus dieser Schule hervorgehen, aber gleichzeitig mit einem­ neuen Publikum Und diese beiden Spaltoren werden sich miteinander vertragen. hal

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