Schul- und Kirchen-Bote, 1894 (Jahrgang 29, nr. 1-21)

1894-01-15 / nr. 2

19 evangelischer Glaube und Kunst geben sich die Bruderhand, wenn sie zur Erreichung dieses Zweckes die Poesie in ihren Dienst nehmen. Neben der Meusik die geistigste aller Künste und schon insofern der protestantischen Auffassung von der Geistigkeit Gottes und der göttlichen Dinge am nächsten stehen, ist sie nicht sowohl aus der Welt und M­enschen ımmgestaltenden und neuschaffenden Innerlichkeit des Christentums, als vielmehr aus der durch die Reformation von neuem auf­ den Leuchter gehobenen Überzeugung von der Kindschaftsstellung jedes Christen seinem himmlischen Vater gegenü­ber erwachsen. Wo sollten nun wohl die Tyrischen Ergiffe eines Meenschenherzens, welches die Kraft der göttlichen Heilsthatsachen an sich selbst erfahren und vem so erwachten Gefühle innerer Stückseligkeit in Gestalt eines Liedes Anspruch verliehen, eine­­ geeignetere Stelle finden als in der evange­­lischen Gemeindefeier? „Diese Lieder sind­­ eben das syrische kirchliche Bekenntnis, ‚von der Kirche in die Kirche gereist, Gott in Christo zu verherrlichen und die Gemeinde allseitig zu erbauen.“ (Zezfehwiß, Dr. ©. von: Die prattische Theo­logie. Nördlingen 1885. S. 392.) Mit der Aufnahme religiöser Dichtungen in den sonntäglichen Gottesdienst machen sich aber zugleich die Anforderungen geltend, welche an dieselben zu stellen sind, falls sie nicht von Wesen des evangelischen Gottesdienstes als einer Gemeindefeier widersprechen sollen. Darum verlangt man von allen dichte­rischen Erzeugnissen v dieser Art in erster Linie, dar ihr Charakter nicht etwa blof religiös oder christlich, sondern Frec­lich sei, d. h. daß ihr Inhalt sich ganz und gar in den Bahnen der Offenbarungen Gottes, in Christo als der stets unveränderlichen Grundlage der christlichen Kirche bewege. Auf veralteter Dogma­tischer oder moralischer Weltanschauung beruhende Reflexionen sind überhaupt feine Lieder, und rein subjektive Empfindungen werden nie eines Volkes und nie einer kirchlichen Gemeinschaft Eigentum sein; nur ein im Befige der kirchlichen Heilsgüter gewisser Sinn wird die in ihnen verborgenen weichen Schäße heben und durch die Kraft göttlicher Poesie auch fü­r die christliche Gemeinde Werke von dauernden Werte schaffen können. Allein dieser kirchliche Charakter einer as schließt nicht aus, daß Die­selbe dennoch durchaus individuell gedacht ist. Ian­es muß sogar die pers­ön­­liche Heilserfahrung dergestalt hervorleuchten, was der Leser oder Sprecher die Worte des Dichters als seine eigenen betrachtet. Denn wenn der evangelische Gottesdienst nichts anderes it als eine einmalige zusammenhängende Darstellung des im täglichen Leben eines Christenmenschen immer wiederkehrenden sittlich-religiösen Entwickklungsprogesses von einem Sünder durch Rufe und Glauben zum Gottesfind, wenn wer­twed der gemeinschaftlichen Feier, der ist, den einzelnen jun Herzensübergabe an Gott zu bewegen und Seelenbereitschaft für die göttliche Wahrheit zu bewirken, so liegt auf der Hand, daß auch der fro­mmen Poesie das ganze Gebiet religiöser Innenerlebnisse und persönlicher Seelenstim­­mungen offen steht. Auch die durch den höheren oder geringeren Grad christlicher Heilserkenntnis bedingte Verschiedenheit der Gemeindeglieder unter­einander, sowie die Zeit des Kirchenjahres erheirschen eine große Mannigfaltigkeit in der Auswahl dichterischer Stoffe. Keine der bildenden K­ünste man im dieser Hinsicht mit der P­oesie in Vergleich treten. Der Fromme Sänger schaut wie ein Prophet des alten Bundes im Geiste den Allm­ächtigen auf seinen erhabenen Throne, ihn zu pfeifen tönet sein Yob und Dant. Die Wohlthaten ohn’ Ende, welche Gott im Laufe der Zeit den Menschen erwiesen, vor allem die Sendung seines Sohnes zur Rettung der gottentfremdeten Seele, wejsen Yeiven, Sterben und Auferstehn­ läßt er wie aus binmalischen Höhn 0.

Next