Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt, 1892. November (Jahrgang 19, nr. 5744-5769)

1892-11-26 / nr. 5766

Diebaktion und Administration Heltauergasse 28. Erscheint mit Ausnahme des auf Sonn- und Feiertage folgenden Worentages täglich. Abonnement für Hermannstadt: monatlich 85 Fr., vierteljährlich 2 fl. 50 Fl., Halb­­­jährig 5 fl., ganzjährig 10 fl. ohne Zustellung in’3 Haus, mit Zustellung 1 f., 3 fl. 6 fl. 12 Abonnement mit Postversendung: SHür das Inland: bierteljährig 3 fl. 50 Er., Halbjährig 7 fl., ganze Jährig jährig m fl. Hr Für das Ausland:­­­ bierteljährig 7 RM. oder 10 Fres., halbjährig 14 RM. oder 20 Fred., ganzjährig 28 I oder 40 Fred. Eine einzelne Nummer kostet 5 Er. d. W. Unfrantirte Briefe werden nicht angenommen, Manuskripte nicht zurückgestellt. Nr. 5766. XIX. Jahrgang Siebenbürgisch-Deutsches Hermannstadt, Samstag 26. November Pränumerationen und Inserate übernehmen außer dem Hauptbureau, Heltauers Waffe Nr. 23, in Kronstadt Heinrich Zeidner, H. Dresswandt’s Nachfolger, Mediasch Johann Hedrich’s Erben, Schässburg Carl Herrmann, Bistritz G. Wachsmann, Sächsisch-Regen Carl Fronius, Mühlbach Josef Wagner, Kaufmann, Broos Paul Batzoni, Lehrer, Wien Otto Maas (Haasenstein - Vogler), Rudolf Mosse, A. Opelik, M. Dukes, Heinrich Schalek, J. Dannen­­berg, Budapest A. V. Goldberger, B. Eckstein, Frankfurt a. M. G. L. Daube & Co., Hamburg Adolf Steiner, Karoly­­n Liebmann. Insertionspreis: Der Raum einer einspaltigen Garmondzeile fostet beim einmaligen Einraden 7 Tr., das zweite mal je 6 r., das drittemal je 5 fr. ö. W. ex­­­clusive der Stempelgebühr von je 30 kr. Das neue Kabinet im Magnatenhause, Budapest, 21. November. Präsident Kronhüter Baron Bay eröffnete die Ligung kurz nach 3 Uhr nachmittags; er ließ die auf den Kabinets­wechsel bezüglichen Rufschriften und königlichen Reskripte verlesen, worauf der Duästor Graf Stefan Szapary das neue Kabinet in den Saal führte. (Lebhafte Eljenrufe.) Ministerpräsident Alexander Weterle entwickelte Hierauf das Regierungs­­­programm in derselben, nur zeitlich mnapperen Fassung, wie früher im Abge­­­ordnetenhause. Graf Ferdinand Zichy, der sodann das Wort ergriff, beschwerte si darüber, daß man das Magnatenhaus zwei Stunden lang warten ließ. Dies befände seine große Aufmerksamkeit gegen das Haus. Dann legte Redner aus­­­einander, daß er das Regierungsprogramm zum größten Teile billige, nur hinsichtlic­­her kirchenpolitischen Fragen sei er mit der Regierung nicht einher­­­standen. „Wir lassen uns“, sagte der Redner, „nicht dur Schlagworte leiten, “ giebt ein in ganz Europa betontes Schlagwort: der Liberalismus, unter welchem viele einen gewissen Ideenkreis gruppieren, und was in Europa mit diesem Worte bezeichnet wird, davon dürfen, sagt man, die Ansichten eines ge­­­bildeten Menschen nicht abweichen. Solo Schlagworte kann ich nicht akzep­­­tieren. Meiner Ansicht nach bewarf er bei der Behandlung der Staatsange­­­legenheiten eines nüchternen Konservativismus, den zu hüten der Beruf und die Pflicht de Magnatenhauses ist. Andererseits aber kann ich dem­ geehrten deren Ministerpräsidenten auch die Versicherung geben, daß sie das Diagnaten­­­haus den Ansprüchen der Verhältnisse, der Entwicklung und der Votierung der durch dieselben erforderten justiziellen, administrativen oder anderweitigen Re­­­formen niemals verschließen wird. Wenn sie das unter Liberalismus ver­­­stehen, so ist niemand liberaler als wir. 3 giebt aber no ein anderes Schlagwort, welches ich an nicht akzeptieren fan. Dasselbe begeht darin, daß das Geseh und die Suprematie des ungarischen Staates allem voran und über alles gehe. Ich bin weder Seelsorger noch Theologe, aber schon im Heinen Katechismus habe ich gelernt, daß man Gott eher zu gehorchen habe, als den Menschen und daß die göttlichen Gelege höher stehen als alle übrigen. Die staatlichen Gelege fordern auf jeden Fall Achtung und Gehorsam, und zwar nach dem Impulse unserer eigenen Seele und nach unserer Mederzeugung, doch die Behauptung aber, daß es nichts höheres und heiligeres gebe, als die staatlichen Gefege, wird die allgemeine Auffassung auf Srewege gelenkt und hiegegen muß ich protestieren.“ So betreff der Wegtaufen erklärte der Redner, daß der 53. Gefegartikel von 1868 nur dort angewendet werde, wo geklagt wird. Da aber nur gegen Katholiken geklagt werde, so jeden dieser Geieg und der Y­ebruarerlaß nur wie eine Verfolgung der Katholiken aus. · „Ich halte“, sagte Nedner, „eine Ab­­­·· änderung des 53.Gesetzartikels von 1868 für notwendig und nehme die ·Losun­g der Frage auf die vorgeschlagene Weise n­icht an­.· Deshalb verfolge ich das Vorgehen der Regierung auf diesem Gebiete mit dem größten Mißtrauen; ichon aus diesem Grunde kann ich ihrer Kirchenpolitik sein Vertrauen votieren, wie ich ihr denn dasselbe überhaupt in jeder Vertrauensfrage entziehe. Wollen Sie mit diesem ineinem Standpunkt rechnen. Die zweite Frage ist diejenige der allgemeinen obligatorischen Zivilehe. Die Zivilbehörde vermag seine Fatho­­­lische Ehe zu knüpfen, die Ehe ist ein Sakrament, welches durch seine Zivil­­­behörde gespendet Werden kann. Der fatholischen Ehe die Anerkennung des Staates zu entziehen und dieselbe an durch den Staat festzustellende­­n Bedin­­­gungen zu knüpfen: das ist eine Mißdeutung der in Ungarn bestehenden recht­­­lichen Ansprüce des Katholizismus und ein Angriff auf dieselben.“ — Noch bemerkte Graf Eid, daß die Regierung den Monarchen in der Ehefrage un­­richtig informiert zu haben scheine. Er werde der Regierung in allen übrigen Fragen entgegenkommen, nur in Fragen des Glaubens und des Katholizismus erde er ihr Opposition machen. Graf Geza Szapary: Hohes Magnatenhaus! Ich bin überzeugt, da das Magnatenhaus das neue Deinisterium in allem, was wirklich liberal it, unterjragen wird, aber ich bin all davon überzeugt, daß, wenn auch diese Regierung wieder Gewissenszwang treiben will mit Hilfe von Gendarmen — und ich gestehe, ich habe diesbezüglich Bedenken — wie dieser unter dem früheren und gegenwärtigen Kultusminister getrieben wurde, dann wird dieses Haus diese Auffassung des Liberalismus nicht unterfragen. Graf Nikolaus Mori Esterhazy bekannte sich zu demelben Stand­­­punkte wie Graf Ferdinand Zichy. Ministerpräsident Weferle erklärt vor allem, er sei an dem ihm zum Vorwurf gemachten Verstoß gegen den sozialen Anstand unschuldig, da nicht er, sondern die P­räsidenten der beiden Häuser des Reichstages den Beginn der Sigungen anberaumt haben. Er will auf die Ausführungen der V­orredner nicht eingehend reflektieren, namentlich nicht, insoferne dieselben sich auf seine im Abgeordnetenhause gemachten Neu­erungen beziehen. Er bittet die Magnaten­­­hausmitglieder, ihre Kritik für jene Zeit aufzusparen, da seine fünfreien Vor­­­schläge vorliegen werden. Er will nur bemerken, daß nicht immer derjenige im Interesse des K­onservativismus wirft, der ‚die Lösung der Fragen aufschiebt, sondern daß derjenige demselben zumeilen einen größeren Dienst erweist, der« die Fragen rechtzeitig löst und so verhütet, daß ihre spätere Lösung mit Zer­­­störung einhergehe. (Zustimmende Rufe.) Er verwahrt sich schließlich dagegen, als hätte er die Krone unrichtig informiert. Graf Ferdinand Zichy erwidert, er habe die Programmrede des Mi­­­nisterpräsidenten im­­­ Abgeordnetenhause angehört und deshalb auf einiges, was er dort vorbrachte, reflektiert. Auch das Magnatenhaus sei ein politischer Faktor, mit dem gerechnet werden müsse und welcher dem Regierungsprogramm gegen­­­über mannhaft Stellung nimmt, wie Redner es gethan. Ministerpräsident Weierle protestiert dagegen, als hätte er zimeierlei Programme, eines für die Abgeordneten, eines für die Magnaten. Er habe sich nur nicht in Details eingelassen, damit sich heute hier seine Debatte über allgemeine Prinzipien entwickle. Daß er beide Häuser des Neichätages für einen und denselben Tag habe einberufen lassen, das entspreche dem bisherigen Usus, und gerade wenn das Magnatenhaus für einen anderen Tag einberufen worden wäre, hätte man ihm Mangel an gebührender Aufmerksamkeit vorwerfen können. (Bestimmung.) Präsident: Die warme Anhänglichkeit der Magnaten an unser teures Vaterland, die unerschütterliche Treue und Anhänglichkeit derselben an unseren erhabenen gefrönten König­­tünnen der neugegründeten parlamentarischen Ne­­­gierung des Landes, deren Mitglieder wir hiemit begrüßen, die sichere Garantie bieten, daß sie in allen ihren Bestrebungen, welche auf das Wohl und den Ruhm des Thrones und des Vaterlandes gerichtet sind, seitens der Magnaten nicht nur die größte Zuvorkommenheit finden wird, sondern daß wir es als unsere heilige Pflicht halten werden, diese ihre Thätigkeit im größten Maße zu fördern. (Lebhafte Zustimmung und Elfenrufe.) Wir mciünschen hiebei, daß die dem Wohle des Thrones und des Landes geltende Thätigkeit vom Segen des Himmels begleitet werde. (Lebhafte Eijenrufe.) Nachdem dann noch das Prototoll authentiziert worden war, wurde die Sigung um 4 Uhr geschlossen. Hermannstadt, 25. November. Bergestein hat die Indemnitäts- Debatte im ungarischen Abgeordnetenhause begonnen. Die Stellung der Opposition dazu kenn­­­zeichnet „Petti Naple” Fury mit den Worten: dem M­inisterium Weferle votieren wir weder Vertrauen, noch Geld. So beginnen schon am Anfang der Bahn die Funktionen, hervorgerufen durch die Unversöhnlichkeit der Oppo­­­sition, vor welcher weder das Regierungssystem, noch die liberale Partei, noch deren Ministerium in neuer Auflage Gnade findet. Warum ist Graf Szapary gegangen? fragt ein anderes oppositionelles Blatt, dem seine Nachfolger au) unbequem erscheinen. Das Warten auf die Meinisterjeffel dauert den Führern der Opposition schon zu lange.­­­­­­­­­­­ m 1892. Politische Hebersicht. Auch aus Kroatien weht raufer Wind. Zu dem Programm des Mini­­­steriums Weferle, insonderheit zum kirhhenpolitischen Teil desselben, schreibt das „Agramer Tagblatt“: „Zur­­ung in Kroatien hat freilich diese Angelegenheit, wie überhaupt diese ganze sogenannte „Liberale Richtung”, auf der das Magyarentum unter so großem Spertafel herumreitet, nur ein mittelbares Anteresse. Wir sehen­­­ ja deutlich, was Hinter diesem so hoch aufgebauchten Liberalismus steht: Ein gut Teil davon ist P­artei-Rivalität und Klique-ntrique, und der Rest im Sand für die Augen Europas, damit man Hinter dieser hoch aufgeschütteten liberalen Barriere die pechsschwarze Reaktion nicht sehe, die das freiheitliche Magyarentum im Interesse der „Reinheit der nationalen Konsolidierung” — wie die schöne Phrase des Herren Dr. Wekerle lautet — zu praktizieren ver­­­steht, wie irgend ein verfuöcherter Absolut ist.* In der Reichstagsberatung rechtfertigte der neue Ministerpräsident auch diesmal seinen Ruf als schlagfertiger und rastvoller Staatsmann, wobei ihm allerdings die Sympathien, die er bei allen Parteien genießt, sehr zu Statten kommen. Unter allgemeiner Spannung verteidigte Dr. Weierle das Programm der Regierungspartei und wies insbesondere die Behauptung Horankiys, daß die neue Regierung der Kliqueherrschaft in der Majorität ihr Entstehen ver­­­danke, mit Entschiedenheit zurück, ebenso die verdächtigende Anspielung, die si auf geheime Einflüsse in der Partei befft. Die auswärtige Presse widmet der Programmrede des Ministerpräsidenten Weferle eingehende Besprechungen, die je nach der Stellung der betreffenden Rot­­er Dreibunde verschieden lauten; die Berliner „NationalZeitung“ agt z. B.: Die Programmrede des ungarischen Ministerpräsidenten Weierle bestätigt, daß das neue Kabinet auf kirchenpolitiigem Gebiet ganze Arbeit machen will. Damit der Staat in der Lage sei, bis zur pfpichen Durchführung der i­il­­­jtanderegister Uebergriffe von seite d.3 Mlerus. zurück,invifen, sind Uebergangs«­­bestimmungen in Aussicht genommen, vw.iH2 wohl geeignet und, auf wider­­­spenstige Priester Eindruck zu machen­. Der Pariser „Temps“ würdigt an Leitender Stelle das Kabinet Welerle, rühmt die Geschiclichkeit der Programmrede und weit auf die unverkennbaren Schwierigkeiten der Realisation des P­rogram und Gin. Der Petersburger „Syn Dtec­twa”, den man wohl als ein Hauptorgan der panflavistischen Aktionspartei in Raklar­ aufgew­­­ann, schreibt u. a. folgendermaßen: Wir glauben, daß es bei den gespannten Beziehungen zwischen der Purie und den Wiener Kabinet der russischen Diplomatie gelingen wirde, den Papst zu bewegen, den katholischen Slaven zu gestatten, daß sie den Gottesdienst anstatt in lateinischer — in slavischer Sprache abhalten, wie es ja auch bei den Katholiken in Montenegro geschieht. Damit wäre das Haupthindernis der Annäherung der slavischen Stämme Oesterreichs unter sich und an das ortho­­­dore Nußland befestigt, und dabei fönnte der Papst durch diese Reform, welche unter der jlavischen katholischen Geistlichkeit bereits viele Anhänger befigt, um nur den bekannten Bischof Stroßmayer zu nennen, der Einheit der habsburgischen Monarchie und auch der deutsch-magyarischen Hegemonie eine unheilbare Wunde verlegen. Ueber die parlamentarische Lage in Oesterreich wird aus Wien vom 23. d. M. berichtet: Der Einbruch der heutigen Rede des Grafen Taaffe auf die Linke war ungemein peinlichd jene Fraktion der Linken, welche von jeher mit dem ge­­­mäßigten Vorgehen ihrer Führer nicht vollständig einverstanden war, dringt ganz entschieden auf den Eintritt in die Opposition in der morgigen Sigung hätte der Dispositionsfond verhandelt werden sollen, in welcher Plener ur­­­sprünglich eine Erklärung über die Haltung der Linken hätte abgeben sollen. Die Situng findet jedoch erst Freitag statt. Vor derselben tritt die Linke zu einer Beratung zusammen, in welcher Plener diese Erklärung abgeben wird. Die Lage ist eine ganz ernste geworden. Auf der einen Seite wird der Rück­­tritt des Grafen Kuenburg für möglich erachtet, während auf der anderen 2 Feiifketon. Der Historische Sinn. (Schluf.) Aber noch weiter müssen wir es bringen! Denn wenn wir die Sonne ansehen, wie sie fegt ist, so starren uns als Ueberbleibsel der Vergangenheit noch viele seltsame und in ihrer Unvernunft widerwärtige Grbilde an mit ver­­­zerrten Formen und Auswüchsen, lauter Entartungen des Verstandes. Wenn aber die besagte Sonne noch höher steigen und den Benitch erreicht haben wird — 10 sie dann stehen bleiben wird — wenn das Licht der Aufklärung in alle Winkel dringen und alles Dunkel erhellen wird, dann wird eitel Srob­ Ioden unter den Menschen sein! Dann wird der legte Schafhirt auf der Weide kraft seiner modernen Bildung und Aufgeklärtheit ein Meister sein, gegen alle Philosophie der Vorzeit gehalten, dann werden alle die Probleme, die früher so viel lächerliches Kopfzerbrechen verursacht haben, über denen je mancher in einsamem, schwerem Denken die Klarheit des Geistes und die Ruhe des Herzens verloren hat, entweder ganz überwunden und veraltet oder so einfach fein, daß Gevatter Schneider und Handschuhmacher am Feierabend darüber verhandeln und ihnen die Lösung so leicht wird, wie die Berechnung der Bierzeche, die sie unterdessen verzehrt haben. Der Rationalismus findet in Vergangenheit und Gegenwart vieles zu tadeln und zu verwerfen, weil er sich nicht die Mühe giebt, es zu verstehen ; der historische Sinn verfällt leicht in den Fehler, allzu milde zu urteilen, weil er alles aus seinem Grunde zu verstehen sucht: tout comprendre c’est tout pardonner! ® Der Rationalismus glaubt nur an seine eigene Vernunft, die er demonstrieren läßt; der Historische Sinn glaubt vor allem an die alles durchdringende Weltvernunft, die man selten demonstrieren kan, für die das Gefäß des diskursiv denkenden Menschenhirnes viel zu eng ist, die sich meist nur doch ein tiefinneres Schauen und Ahnen in begnadeten Momenten fafsen läßt. · · Der Rationalism­us ist in der Politik demokratisch,republikanisch, „liberal.“ Die Menschen sind von Natur gleich, räforiiert er, sie werden ale auf gleiche­­­­­r Weise geboren und müssen alle sterben, der leibliche Organismus, der Blut­­umlauf, der V­erdauungsapparat, das Nervensystem ist bei allen dasselbe, der König empfindet den Schmerz nicht anders, als der Bauer, und auch, das Glück kann er nicht intensiver fühlen, wie dieser. Die soziale und politische Ungleich­­­heit der Menschen ist darum ein der Natur und der Vernunft zum widerlaufender Zustand. Daß ein einzelner durch seine Geburt schon an die Seite eines Staates gestellt und mit einer Machtfülle bekleidet wird, die ihn über Millionen anderer Menschen erhebt, läßt sich aus dessen persönlicher Beschaffenheit weder erklären, noch rechtfertigen. Das deal einer Gesellschaft und eines Staates ist dann erreicht, wenn alle Menschen die gleiche Freiheit der Bewegung haben, wenn alle in gleicher Weise am Genusse der vorhandenen materiellen und geistigen Güter beteiligt sind, wenn ferner alle gleichen Anteil an den Staats­­­geschäften haben, indem sie duch Abstimmung und Wahl von Vertretern und Beamten ihre souveräne Meinung zu erkennen geben. Daß der Rationalismus der Frauenemanizipation das Wort redet, ist ganz folgerichtig, denn es ist nicht einzusehen, warum die Frauen von der allgemeinen Gleichheit ausge­­­schlossen sein sollen. Der Kosmopolitismus ist auch eine Konsequenz des poli­­­tischen Nationalismus. Der Staat ist eigentlich nur eine beengende Schranke der Menschlichkeit und das Staats- und Nationalgefühl eine „erhabene Schwäche.“ Mie viel vernünftiger wäre doch eine alle Menschen umfassende Gemeinschaft ! Der Krieg, diese größte aller menschlichen Thorheiten, wäre dann auch über­­­flüssig und damit der rohe Militarismus, der sich so viele Mühe giebt, die Menschen zu Schlachtopfern zu erziehen. Solche und ähnliche Betrachtungen stellt der Nationalismus an und je nach der größeren oder geringeren Schärfe, mit denen die Konsequenzen derselben zu Ende gebracht werden. Liegen sie den zahlreichen instruktiven politischen Richtungen zu Grunde, vom radilal­ten Sozialdemokratismus an bis zum zahmsten und impotentesten Philisterliberalismus herunter. Der Historische Sinn dagegen ist die unwichtigste Stüße aller staatlichen Gesinnung. Er ist ein entschiedener Gegner des politischen Doktrinarismus jeder Art. Ein tiefer Respekt vor dem Wirklichen, den natürlich Gewordenen kennzeichnet ihn. Von der Geschichte läßt er sich belehren, daß nie und nirgends unter den Menschen eine gesellschaftliche Gleichheit bestanden, daß vielmehr von Anfang an eine unausgeregte Sonderung, Differenzierung, Abstufung, Gliederung statt­­­gefunden hat, durch die jede Erhöhung der Kultur und des geistigen Niveaus bedingt war. Die Menschheit ist ihm ein großer, sich entwicklnder Organismus, die Nationen und Staaten­­lieder desselben, die selbst wieder Organismen sind. Nationales und staatliches Solidaritätsgefühl ist das belebende Blut dieser Organismen. Ih muß mich in erster Linie als Staatsbürger fühlen, dann erst als Weltbürger, denn als ersteren finde ich mich vor, sobald ich zum Denken erwache, zu leßterem macht mich erst die Abstraktion. — Eine absolut giftige, überallein passende „beste” Staatsform ist ein Hirngespinnst und ein­­­ grober Fehler des Doktrinarismus ist es, eine Verfassung von einem Staate, wo sie sich bemährt hat, auf einen anderen aufzupflanzen, wo alle historischen Bedingungen zu ihrer Einwurzelung fehlen. Mit jedem Volke wächst seine eigentümliche Staatsform und sein Recht unbewußt, wie sich seine Sprache unbewußt bildet, und was er mit Bewußtsein hinzufügen darf, kann nur ein konsequenter Ausbau dieses unbewußt Gewordenen sein, nichts von außen Heran­­­gebrachtes. Der Historische Sinn läßt sie also nicht einfallen, von vorneherein aus­­­zumachen, welche Staatsform für ein Volk die beste sei. Jedenfalls aber ist er aristokratisch gesinnt und hält nicht allzuviel von Abstimmungen und Wahlen, wenigstens nicht bei allgemeinem und gleichem Stimmrecht, welches der that­­­sächlichen, natürlichen Ungleichheit­­strade zuwiderläuft. Die Monarchie hält er nicht für etwas unvernünftiges und die Worte „von Gottes Gnaden“ enthalten für ihn nicht einen mystischen theokratischen Begriff, sondern sind der Ausdruck dafür, daß die Spibe eines Gemeinwesens ebenso emporgewachsen ist, wie dieses selöst, nicht durch den bewußten Willen der Menschen, beziehungsweise deren Majorität, sondern der natürliche Entwickklung und Gliederung. Der Krieg ist ein natürlicher und notwendiger Vorgang und ist von jeher das wirksamste Kulturförderungsmittel gewesen. Er wird nie aufhören, denn er ist nur eine Entscheidungsform des ewigen Kampfes ums Dasein, dessen si­­che Natur überall zu ihren Emweden bedient. Der Krieg wird stets, nach dem Wort des alten jenischen Naturphilosophen, der Vater der Dinge bleiben, und sich für den Krieg tüchtig zu machen, zu den ersten Pflichten eines gesunden Staatswesens gehören. Der Historische Sinn ist also im Vergleich zum Nationalismus twesentlich sonservativ, indem er bei allem Fortschritt — den er, als im Begriffe der Entwickklung liegend, stet8 will — darnach trachtet, das Bestehende

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