Kirchliche Blätter, 1910 (Jahrgang 2, nr. 1-53)

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Pflichtbewußtsein im täglichen Leben und Lieblosig­­keit vorgeworfen wird.Man braucht doch wahrlich die Sache nicht aus eigener Anschauung zu kennen; soviel muß doch Unser­ einer auch vo­n Hörensagen wissen,daß eine gewaltigere,selbstlosere,1rah­ r­­aft evangelische Liebestätigkeit nirgends zu finden ist, als in der Gemeinschaftsbewegung und in den mit ir­r verwandten Kreisen,wie z;.B.der Heilsarme­­. Daß es auch unter den Gem­­inschaftsleutenhic und da räudige Schafe gibt, will ich nicht leugnen; so mag es ja vorgekommen sein, daß einmal ein Kind seine Eltern, Eltern ihr Kind vernachlässigt haben, aber dies als ein Charakteristiktum der Ge­­meinschaftsleute hinzustellen, geht doch nicht an! Auch das gebe ich zu, daß sich hie und da Ge­­meinschaftsleute zur Kirche nicht so gestellt haben wie es hätte sein sollen, doch habe ich gefunden, daß fast in allen Fällen die Kirche daran Schuld war. Und was soll ich endlich sagen zu dem Baffus: „Die Geschichte der Erwedungen und Belehrungen ist ebenso ein Studium für den Arzt wie für den Theologen, und sobald der Mensch seine Nerven nicht mehr zu beherrschen vermag, ist er nicht religiös erweckt, sondern einfach körperlich frans.“ So kann man doch Andersgläubige weder verstehen, noch sie bekämpfen, wenn man sie von oben herab einfach für Narren erklärt. Wir aber haben die Pflicht,­­­iese mächtige Bewegung, die durch die ganze evangelische Welt geht, verstehen zu lernen, um uns dann klar zu werden, wie wir uns dazu zu stellen haben. Eine derartige Stellungnahme, wie sie Haltri ein­­nimmt, erinnert vielfach daran, wie sich die Landes­­kirche vor etlichen 70 Jahren zur äußern Mission verhielt. "Der geh. Oberregierungsrat Dr. Michaelis (ein Jurist und da auch Gemeinschaftsmann!) er­­zählt in seinem trefflichen Büchlein: „Arbeitsaus­­tausch zwischen Kirche und Gemeinschaft”: „Im Jahre 1835 kam die Meldung, daß sich irgendwo in Schlesien ein Verein für äußere Mission gebildet hätte. Nach aktenmäßigem Vorgange hielt das Konsistorium dies für Höchst bedenklich und stellte eine Rundfrage bei sämtlichen Superintendenten an, derartige Erscheinungen auch in ihren Amts­­gebieten vorgekommen wären. Sämtliche Superin­­tendenten berichteten mit großer Befriedigung — bis auf einen —, daß zum Glück derartige Er­­scheinungen bei ihnen nicht beobachtet worden seien. Sie waren so alle darüber einig, daß das nur zur Schwärmerei führte. Die Leute vereinigten sich unter dem Gedanken der äußeren Mission zu besonderen Stunden, läsen die Bibel und beteten miteinander. Aber das führe zur Sektiererei. Die ganze Mission gehöre zur Brüdergemeinde, dort solle man sie Lassen, und der Bericht des Hirschberger Superintendenten schloß etwa so: „Und so vertraue ich zu dem barm­­herzigen Gott, daß er uns vor­­ dieser geistlichen Cholera bewahren wird, wie er uns vor der leiblichen in unseren Bergen bewahrt hat.“ Der Bericht des Kollegen Haltrich hat auf mich den Eindruck gemacht, als ob er die Gemeinschafts­­bewegung an für jo eine Art „geistlicher Cholera“ halte, die wir ablehnen, ja bekämpfen müssen. Daratt ändert nichts, wenn er auch hie und da et­was Gutes, Nachahmenswertes findet. Im Großen und Ganzen lehnt er ab. Ich bitte mir nun zu gestatten, daß ich meinen, diejem­ entgegengefeßten Standpunkt hier vorführe. So tue dies Hauptsächlich auf Grund von Erfahrungen, die ich im Umgange mit Anhängern der Gemein­­schaftsbeiwegung gemacht habe. Ich habe nämlich Gelegenheit gehabt, nicht nur die Gemeinschaftsleute, die unter uns arbeiten, kennen und ihre erfolg- und segensreiche Arbeit schägen zu lernen, sondern auch auf einer Studienreise im ver­­gangenen Sommer auf der „Brantenburger Kon­­ferenz“, ferner in einem von Generalleutnant von Vicbahn geleiteten Bibelkurs, weiters in Homburg dr. d.9., sowie endlich im Asyl Remismühle (Schweiz) mit Gemeinschaftsleuten der verschiedensten Rich­­tungen in Berührung zu kommen. Tr­um­an vom Ursprung der Gemein­schaften auszugehen, so sei bemerkt, daß wir in ihnen seineswegs eine amerikanisch - englische Be­­wegung zu sehen haben, daß vielmehr die Gemein­­schaftsbewegung so alt ist wie das Christentum selbst. Sie haben angefangen damals, als man schrieb: „Sie blieben beständig in der Apostel Lehre, in der Gemeinschaft, im Brotbrechen und im Gebet“ (Apostelgeschichte 2, 42); sie waren ein Herz und eine Seele. Da war nicht der eine der predigende Pfarrer und die andern die ich anpredigen lassenden Laien; da redete, betete, predigte jeder, nachdem ihm der Geist gab, es auszusprechen. (Siehe die Gründung der christlichen Gemeinde von Antiochia, Apostelg. 11, die nicht durch Apostel, sondern von Laien bewerf­­stelligt wurde.) Da war es nicht eine äußere kirch­­liche Organisation, die sie zusammenhielt; es war der eine Geist, der heilige Geist, Jesu Geist. Leider blieb es nicht lange so. Die christliche Kirche ward nach Erhebung des Christentums zur Staatsreligion eine Weltkirche; der heilige Geist trat mehr in den Hintergrund, das Kirchentum mehr in den Vordergrund. Aber auch in dieser trostlosen Zeit des Christentums gab es immer kleine, erwedte Kreise, die das Evangelium rein erhielten, „Gemein­­schaften“, die sie an das Wort des Heren haltend: „Darum geht aus von ihnen und sondert euch ab“ (2. Cor. 6, 17.), die Schmach Christi trugen, sich „Reber“, „Häretiker“ nennen ließen, Verfolgung und Tod auf sich nahmen, aber dabei das Evan­­gelium Christi rein erhalten hatfen. Das waren z. B. auch die Albigenser und Waldenser und ähn­­liche Gemeinschaften. Zu den Tagen der Reformation endlich vollzog sich die gewaltigste geistige Scheidung, die wir fennen, und die Grundsäße, nach denen Luther die erneuerte cristliche Kirche aufrichten wollte, lassen erkennen, daß die Gemeinschaftsbe­wegung so recht ein Kind der Reformation ist. Hier seien nur die bekanntesten und wichtigsten Worte aus Luthers Mund erwähnt, die dafür sprechen: „Unter Hundert ist kaum ein Christ. Die Welt ist ieh

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