Secession ( 2001)

winden, wenngleich sie dennoch nicht langlebig sind (wie z. B. die Mode). Die Stabilität wissenschaftlicher oder kulturel­ler Vorstellungen wird von Institutionen gehütet und in zeitbeständigen Medien wie Büchern und Archiven festgehalten. Von jener Tabelle ausgehend könnte man eine Interpretation dessen anbieten, wie die neuen Medien und interpersona­len Netzwerke zwei Interaktionsformen, die bisher grundlegend in verschiedenen Sphären (und Medien) stattgefunden haben, in einem Punkt vereinen: die flüchtigsten inneren Gedanken, Gespräche und Klatsch auf der einen Seite und die institutionell festgelegten und gehüteten Repräsentationsformen auf der anderen. Diese gemeinsamen Kanäle und Medien gefährden den bisherigen Charakter des Privaten möglicherweise weniger als vermutet, sie könnten vielmehr eine Umstrukturierung des Institutionellen bewirken. Hierbei dringen private Vorstellun­gen als Geräusche immer wieder in die Dokumente und Archive des Institutionellen ein und vermischen sich mit die­sen, um die bisherigen Strukturen oder Ordnungssysteme tendenziell unbrauchbar zu machen. 4. Der Rekurs auf diese drei Aspekte bzw. Quellen soll dazu beitragen, ein Phänomen meiner alltäglichen kommunika­tiven Praxis zu umreißen.6 Der dritte Aspekt - die epidemischen Verbreitungsmechanismen, oder genauer: die Um­strukturierung des Institutionellen - lässt auf die konkrete künstlerische Praxis bezogen fast zwangsläufige Schluss­folgerungen zu: Es ist mittlerweile evident, dass Werke in vieler Hinsicht nicht mehr zwischen den Wänden musealer Räume realisiert werden, sondern in einem medialen und gesellschaftlichen Raum. Wir können im Gegensatz zu den nunmehr historischen Formen von Fluxus oder Underground Art nicht mehr davon sprechen, dass dissidente Positio­nen angestrebt werden. Viktor Misiano umreißt demgegenüber in seinem Text Confidential Communities eine künstleri­sche Strategie, „in deren Rahmen Projekte entwickelt worden sind, die als Institutionalisierung der Freundschaft be­zeichnet werden können“6. Des weiteren heißt es: „Die wichtigste Besonderheit eines solchen Projekts besteht darin, dass die menschliche Dimension die professionelle überwiegt“, da sich die Künstler von Repräsentationsformen ab­wenden, die von Institutionen oder marktwirtschaftlichen Unternehmen geprägt sind, um kleinere, konkrete sozio­logische Räume zu betreten - zwischenmenschliche Beziehungen -, die die Soziologen „Face to face relation“ (E. Goffman) nennen. Dieser Prozess geschieht ohne jegliche Berücksichtigung ideologischer Aspekte oder von Artikulationen einer Strömung oder einer Szene. Ich kann schwer beurteilen, ob Misianos Thesen zutreffend sind. An dieser Stelle möchte ich auch anmerken, dass er konkret zu unserer Arbeit Stellung nimmt, was mir im Vergleich zu unserem Alltag etwas pathetisch erscheint. Es fehlt mir aber momentan die Außenperspektive oder ein Mittel der Analyse, um die Beziehungen exakter zu klären, die zwi­schen genau dieser Praxis und den politisch-wirtschaftlichen Institutionen bzw. Machtstrukturen bestehen. Was ich jedoch feststellen kann ist, dass mein Schreibtisch und mein Kopf voller fremder Ideen sind; oft sind es Konzepte, die noch gar nicht realisiert wurden. Auch ich schreibe sofort nieder, wenn ich eine Idee habe, um den Zettel jemandem anderen auf den Schreibtisch rüberschieben zu können oder erzähle es diesem anderen persönlich. Man kann versu­chen, dieses Phänomen mithilfe der dialogischen Montage zu artikulieren oder als gegenseitige (kulturelle) Anthropo­phagie zu charakterisieren. Des weiteren kann man sich auf die „epidemischen Verbreitungsmechanismen der Informa­tion“ berufen, oder man könnte die konkreten Geschichten erzählen, beispielsweise dass oder wie Beáta Veszély von Budapest in eine Wohnung nach Glasgow gezogen ist, oder wieso mich Milica Tomié 1999 nach Belgrad eingeladen hat, um eine gemeinsame Ausstellung im Café Karmin zu realisieren, oder wieso die gemeinsame Plattform zwischen Luchezars Boyadjievs politischen „Südbalkan-Projekten“ im Jahr 1999 und Extra-Territoria von Milica Tomié und mir nie zustande kam. Hinsichtlich dieser Ausstellung stellt sich nun in erster Linie die Frage, wie man den konkreten Lauf der Dinge aufzeigen kann und welche Art der Präsentation einen Sinn hat. Die involvierten Künstler haben mir vorgeschla­gen, mir ihre Arbeiten, ihren Namen, ihre Dokumentationen - und damit ihre Persönlichkeit - zu leihen, um in dieser Konstellation nach bestehenden Konflikten und Kohärenzen suchend einen Raum einrichten zu können. November 2000, Budapest 1 2 3 4 5 6 1 Mihail Bakhtin über die Satire von Mennipos, in: The Problems of Dostoevsky’s Poetics, 1922, publ. 1929 2 Csaba Pléh, A gondolatok terjedési mechanizmusai: mérnek vagy fertőzések (in engl. Übs.: The Spreading Mechanism of Ideas: Memes or Epidemies), in: REPLIKA 40, Budapest 2000, S. 165-186 3 R. Dawkins, Az Önző Gén, Budapest 1986 (im engl. Original: The Selfish Gene, 1976) 4 D. Sperber, Anthropology and Psychology: Towards an Epidemilogy of Representations, in: MAN 20/1984, S. 73-89 5 Communication - /an artist who doesn't speak Englisch is not an artist: Titel der Arbeit von Mladen Stilinovic und Titel einer Ausstellung, kuratiert von Hans Knoll. Katalog und Text erscheinen demnächst. Kunstverein Aschersleben 2000 6 Viktor Misiano, Confidential Communities, in: Cooperativ, Stadthaus Ulm, 2000, S. 11-22

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