Literarische Berichte aus Ungarn 2. (Budapest, 1878)

1. szám - Gustav Heinrich: Ungarische Dichtungen in deutscher Gestalt

UNGARISCHE DICHTUNGEN IN DEUTSCHER GESTALT. 63 schaffen hat, was den Vergleich mit den glänzendsten Leistungen der Romanliteratur der Neuzeit wohl aushält. Aber Petőfi und Jókai erschöpfen die ungarische Dichtung bei weitem nicht und es muss das Ausland geradezu irreführen, wenn ihm fortwährend blos Petöfi’sche und Jökai’sche Werke vorgelegt werden, — als ob un­sere Literatur nichts weiter aufzuweisen hätte, was der Beachtung des Auslandes würdig wäre ! Dazu kommt ein zweiter, sehr bedauerlicher Umstand. Petőfi und Jókai sind dem Ausland dergestalt als Repräsentanten der ungarischen Dichtung vertraut geworden, dass dasselbe eben nur von diesen Dichtern Notiz genommen und neben ihnen alles An­dere unbeachtet hei Seite gelassen hat, was ihm aus dem Vorrathe unserer Nationalliteratur geboten wurde. Ausser Petöfi’s lyrischen und epischen Gedichten und Jókai’s fesselndsten und werthvolU sten Romanen sind mehrere der glänzendsten Werke unserer Li­teratur ins Deutsche übertragen worden; es ist denselben aber auffallender Weise gar keine Beachtung zu Theil geworden. Um nur einige Beispiele zu nennen: Josef Katona’s grossartige Tra­­goedie «Bänk-bän», * Sigmund Kemény’s meisterhafte historische Romane, Johann Arany’s kunstvollendete epische Dichtungen, — wer weiss in Deutschland von diesen? wer hat je auf dieselben reflectirt? Sie sind in deutscher Uehersetzung erschienen, aber entweder gar nicht über unsere Grenzen hinausgedrungen oder doch draussen übersehen worden. Und doch verdienen die genann­ten Dichtungen dem Besten und Vollendetsten beigezählt zu werden, was die Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, in Deutschland wie anderwärts, hervorgebracht hat. Es wäre wahrlich endlich an der Zeit, auch diesen Dichtern unseres Volkes gerecht zu werden, nachdem man Petöfi’s und Jókai’s Bedeutung so wil­lig und verständnissvoll anerkannt hat. Endlich hat über unserer poetischen Literatur, was die Uebertragungen ins Deutsche anbelangt, noch ein schlimmer, recht schlimmer Stern gewaltet: der mangelhafte Beruf, die unge­nügende Ausrüstung der Uebersetzer. Gar wenige, die unsere her­vorragenden Dichter zu verdeutschen versuchten, waren dergestalt im Besitze der ungarischen Sprache, um das Original in allen seinen Eigenheiten und feinen Zügen vollständig zu verstehen, — nur wenige beherrschten die deutsche Sprache in dem Maasse, dass sie vermögend gewesen wären, den ungarischen Dichter in seiner ganzen Wesenheit in die fremde Form des fremden Idioms zu kleiden. Wohl kein Zweig der quantitativ wie qualitativ gross­ * Denselben Stoff hat Grillparzer in seinem vielgeschmähten Trauer­spiele «Ein treuer Diener seines Herrn» bearbeitet, ohne selbstverständlich Katona’s Stück zu kennen oder selbst nur von der Existenz desselben zu wissen.

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