Bukarester Gemeindeblatt, 1925 (Jahrgang 17, nr. 1-52)

1925-01-04 / nr. 1

Oahrgang XVII Sonntag, den 4. Danuar 1925 Bukarestet* Gemeindeblatt Schriftleitung: R. Honigberger j Geschäftsstelle: Gemeindekanzlei, Str. Lutherana 10 Do. I Zum neuen 3ahre. Röm. 8, 38—39. „Ein Tag', der sagt’s dem andern, Mein Leben sei ein Wandern Zur grossen Ewigkeit Ein Tag sagt es dem andern und eine Nacht tut es kund der andern, aber niemals hören wir die Botschaft so deutlich, als wenn es der letzte Abend des Jahres dem Neujahrsmorgen zuruft. Wenn in dtr Sylvesternacht um 12 Uhr die Glocken anheben zu läuten, da ist es uns, als sähen wir ein Stück un­seres eigenen Lebens hinuntersinken in die Vergan­genheit; es ist uns, als ob die Glocken uns mahnen wollten, stille zu halten, einzukehren in uns selbst, uns aus der Zerfahrenheit unseres Da­seins'zu sammeln u. nachzudenken über den Weg,­­den wir zurückgelegt, über das Werk, das wir zu tun haben. Erinnerung steigt auf vor unserer Seele. Wir fragen uns, was das abgelaufene Jahr gebracht: Wars Freud, wars Leid, Erfolg oder Ent­täuschung, Glück oder Ungemach, Gutes oder Bö­ses? Sonst mögen wohl die Antworten auf solche Fragen sehr verschieden ausgefallen sein; diesmal haben aber wohl die meisten von uns sich sagen müssen: Es war ein schweres, düstres Jahr. Nicht, als ob wir nicht auch manchen Anlass gehabt hät­ten, Gott frohen Herzens zu danken. Aber das kann uns nicht hindern an der Erkenntnis, dass das abgelaufene Jahr uns viel Leid, viel Enttäuschun­gen gebracht. Wir hatten gehofft, es werde endlich die ersehnte Klärung, Ordnung und Ruhe, Heilung so mancher Wunden, die noch bluten, herbeiführen. Und nun? Fast wills scheinen, als ob die Verhält­nisse noch verwickelter, die Probleme noch unlös­barer, die Dunkelheiten noch undurchdringlicher geworden seien. Noch fühlen wir die Schwan­kungen und Erschütterungen, die in den letzten Jahren den Boden unsicher gemacht, auf dem wir stehen. Noch sind die grossen Gefahren, die die Menschheit be­drohen,, nicht überwunden. Was wird die nächste Zukunft bringen? Wir leben auf schwankendem,, unsicherem Grunde. Wie gerne fänden wir da einen festen Halt für unser Leben. Nun, der Apostel Paulus bietet ihn uns an für unsere Wanderschaft. Er weist uns hin zu dem himmlischen Vater. Ist er für uns, wer mag wieder uns sein? „Ich bin gewiss, so ruft er aus, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürsten­tümer noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes... mag uns scheiden von der Liebe Gottes.“ Selig, wer solches aus tiefstem Herzen nachsprechen kann. Der hat die Stütze, nach der wir uns sehnen, der hat den Wegweiser, nach dem wir uns richten können. „Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes.“ Trübsal oder Angst oder Verfolgung, oder Hunger, oder Blösse oder Fährlichkeit oder Schwert?“ Paulus zählt da all die Gefahren auf, die einst sein Leben bedroht, die eigentlich die ständigen Be­gleiter seines Erdenwandels gewesen waren. Es gab Zeiten, wo wir solche Unbilden eigentlich nur vom Hörensagen her kannten. Aber die letzten Jahre haben dafür gesorgt, dass jeder von uns sie kennen lernte. Ist jemand unter uns, an dessen Tür in der abgelaufenen Zeit Not und Sorge nicht angeklopft, hätte, dem jede Gefahr, jede Trübsal fern geblieben dessen; Leben nicht von Krankheit heimgesucht, des­sen Herz nicht durch den Tod lieber Menschen in Trauer versetzt worden wäre? Wo aber sind diejenigen unter uns, die mit gleicher Freudigkeit, wie der Apostel Paulus bekennen könnten: „Aber in dem allen überwinden wir weit um des willen der uns geliebt hat?“ Wo sind diejenigen unter uns, in denen ein gleich starker Glaube lebt? Nicht, als ob wir uns selbst allen Glauben absprechen wollten. Wir sind keine Gottesleugner. Wir glauben an Gott. Aber welcher Art ist dieser Gottesglaube? Bei vielen einfach eine übernom­mene Lehre, ohne festgegründete, persönliche UeberzeugUng, nichts selbst Erkämpftes und selbst Errungenes.Bei andern ein blasses GedankengebiT de. Sie haben erkannt, dass alles einen letzten Grund, eine letzte zureichende Ursache ha­ben müsse; aber von diesem Schöpfer aller Dinge geht keine Kraft, kein Trost, keine Freudig­keit, keine Gewissheit aus. Kommt eine Not, eine Sorge, ein Unheil, dann sind sie gleich verzagt, murren gegen ihr Schicksal, verlieren das innere Gleichgewicht! Was fehlt unserem Glauben? Eben dies, dass wir Gott nicht recht erkannt, ihn nicht als die Liebe erlebt haben. Sind wir aber von dieser Ueberzeu­­gung durchdrungen, dann erhält alles mit einem1 Male einen tiefen, klaren Sinn. Dann ist uns die Weltgeschichte kein „wüster Greuel“ mehr, sie zeigt uns vielmehr den Gott, der überall an sei­nem Reiche schafft und baut, auch durch die Fin­sternisse hindurch, auch dürch Wüsten und über Schlachtfelder hin. Alle heldenhaften Menschen und Völker haben so geglaubt und wurden dadurch gross und stark. Sie hatten ein höchstes Ziel, wa-

Next