Bukarester Gemeindeblatt, 1931 (Jahrgang 23, nr. 1-52)

1931-01-04 / nr. 1

Dahrgang XXIII. Sonntag, den 4. 3 anuar 1931 Do. 1 Buharester Gemeindeblatt Schriftleitung: R. Honigberger j Geschäftsstelle: Gemeindekanzlei, Str. Lutherana 12 Dahresende. Wandern musst du Seele, wandern, darfst nicht stille stehn; von dem einen Tag zum andern gilts ein Weitergehn. Das ist eine andre Frage, tief als wie das Qrab: sage Seele, Seele sage: gehts hinauf — hinab ? Locken dich die niedern Gassen und der Torheit Schrei ? Kannst du nimmer von ihr lassen, bist als Tor dabei? Oder zieht dich vom Gedränge, das der Tag dir schuf, fort in jene Höhn und Hänge innerster Beruf ? Sieh die Wolken, sieh die Berge, und der Abgrund lacht; Menschen wurden wie die Zwerge, und schon kommt die Nacht. Ach, die Nacht im Königskleide, und die Welt wird weit; und die flücht’gen Stunden schreiten in die Ewigkeit Auf mein Herz, wir wollen hoffen in der letzten Nacht! Sieh den Himmel weit und offen und der Sterne Pracht! Neujahrsgedanken. Psalm 46, 2. E. Darsow. Grosses wirken können nur starke Menschen. Ein Zeitalter ist nur dann als ein bedeutendes und furchtbares für die Geschichte der Mensch­heit anzusprechen, wenn es von Menschen be­herrscht wird, die starken Willen, ehrliche Leiden­schaften, hingebende Treue besitzen, von Persön­lichkeiten, die sich über Hohn und Spott hinweg­zusetzen vermögen, in Sturm und Gefahr mutig1 bleiben, sich durch unerfüllte Hoffnungen nicht ejnttjäuschen lassen und1 die opferbereit sind bis in den Tod!. Alles Bleibende und Grosse in der Geschichte wird nur von starken Menschen her­vorgebracht — stark nicht im) Sinne brutaler Ge­walt — sondern in geistigem', sittlichem Sinne. Jesus war eine starke, heldlenlmiässige Erschei­nung, wie er sich denn überhaupt in erster Linie an seelisch starke Persönlichkeiten wendet. Waren nicht auch seine Jünger und die Apostel starke Sejelen? Und waren es nicht auch die Menschen der Reforfmiafionszeit, ein Luther und seine Mit­arbeiter, ein Zwingli, ein Calvin? Man braucht nur ihre Darstellungen, wie sie uns die zeitge­nössischen Künstler hinterlassen habién, anzuse­­lien, um sofort zu fühlen: in diesen Männern lebt Heldengeist. Wie steht es in dieser Hinsicht mit den heu­tigen Menschen- sind sie unter die Schwachen oder Starken, unter (die Ganzen oder die Halben zu rechnen? Sag mir, was dir gefällt, und ich sage dir, was für ein Mensch du bist. Wie ist die Literatur und Kunst beschaffen, die unser Zeitalter beson­ders liebt? Wer einen Blick in sie tut, erkennt so­fort eine nervöse, überreizte StürJnumg in ihr; sie sucht nach Sensationen, schwelgt entweder in grausamen Instinkten oder huldigt mystischen, dunklen Empfindungen; sie stellt nicht klare, scharf umrisseine Persönlichkeiten dar, sbnd'ern pirolbleţniitische, innerlich1 haltlose Männer und Frauen. Dabei betont sie noch ausdrücklich, dlass sie mit alledem nur ein Spiegelbild! der Moderne gebe, die ja wirklich1 einem Kranken, von Fieber­phantasien liin- undi hergeworfenen Menschen gleicht. Männer von der Art in Ibsens ,,Brand!" mit der Losung: Alles oder nichts, fehlen in ihr, wirken wie Menschen eines anderen Zeitalters. Die Ursache für diese Zerfahrenheit ist nicht leicht aufzuwieisen. Manche meinen, die Gross­stadt mit ihren: zermürbenden, aufreizenden und erschlaffenden Wirkungen trage die Schuld daran. Ein Mensch, der Tag und Nacht arbeiten muss; irn Bureau Hunderten von Ansprüchen gleichzeitig1 ge­nügen soll, ein Mensch, der in d|er Fabrik vom! Lärml der Maschinen' umtost ist, muss nerven­schwach und schlaff werden. Und doch, wie merk­würdig! Dieselben Menschen, die vor kurzen» noch für so wenig kraftvoll und gesund gelten konn­ten, welche Fülle von Heldentumi haben sie in der Zeit des Krieges an den Tag gelegt. Hat sie erst die Not dazu erzogen, oder lebte vielleicht solch heldenhafter Geist, wenn auch nur im! Ver­­btorgepien,jdennoch in ihnen ?Odier ist esnurGleicb gültigkeit gegenüber dem: Tode, der daraus spricht, wie etwa bei dien „Upadnitschestwos" (Enttäusch­ten) in Russland mit ihrer Selbstmordischwiärmle-

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