Bukarester Gemeindeblatt, 1933 (Jahrgang 25, nr. 1-53)

1933-01-01 / nr. 1

2 BUKARESTER GEMEINDEBLATT Nr. 1 Selbstsucht Nicht als ob wir einer öden Gleich­macherei das Wort redeten ; aber erst in der Ge­meinschaft verwirklichen wir das Gebot der Liebe. Und dies Gebot umfasst alle Menschen. Der grosse Gedanke des Völkerfriedens drängt sich immer aufs neue aut, wenn wir von Christus und seinem Reiche sprechen. Gott will, dass allen ge­holfen werde und alle zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Es gibt nur eine Sittlichkeit und nur eine Gerechtigkeit für den einzelnen und für die Gemein­schaft. Und darum gilt auch im Völkerleben das Gebot jesu: alles, was ihr wollt, das euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch. So gross stehen diese Aufgaben vor uns, dass darüber die dogmatischen Gegensätze früherer Zeiten vielfach völlig verschwinden. Die Mensch­heit sieht eine neue Gesinnung, neue Seelenbe­dürfnisse, neue Ideale und Aufgaben vor sich. Aber nur einer kann der Führer zur Lösung seiner Aufgabe sein: es ist der Heiland Jesus Christus, gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit! Aber er kommt stets als ein neuer, stets jugendfrisch wiedieSonne, die jedenTag in neuem Glanze erstrahlt. Er kommt uns zu lehren wie man die Brüder, wahrhaft liebt, wie man seine Religion der Liebe wahrhaft zu Tat werden lässt Das wahre Bekenntnis ist nicht das „Herr, Herr“-sagen, sondern die Tat. Unsere Auf­gabe ist es: Leben und Bekenntnis in Einklang mit­einander zu bringen, im Einzelleben wie im Leben der Völker. Und darum können wir seiner auch im neuen Jahre nicht entbehren, und darum bitten wir immer wieder: Komm, Herr Jesu! Lass uns jedes deiner Worte in neuer Kraft und Schönheit aufleuchten und es für uns zum Antrieb werden zu einem neuen Leben. Sei du — wie du uns verheissen hast — auch im neuen Jahre mit uns, bleibe unser Lehrer, unser König, unser Heiland. Dann wird das neue Jahr gewiss für uns alle, für den einzelnen, für unsere Gemeinde und unsere Kirche, für unser Volk und für die ganze Menschheit ein glückliches und gesegnetes Jahr sein. Das walte Gott! Der Wohltäter. R. H. (Aus dem Russischen nach Lev Tolstoi von Lehrer Otto Ensslen—Tariverde.) Es war einmal ein Wohltäter, der den Men­schen soviel Gutes wie möglich erweisen wollte und darüber nachzudenken begann, wie er es an­fangen sollte, niemand dabei zu beleidigen und allen Nutzen zu bringen. Wenn man die Gabe direkt von Hand zu Hand verteilt, so kann man nicht erwägen, wer dessen würdiger ist; alle aber kann man nicht gleici behandeln diejenigen, die nichts erhalten, werden sagen: „Warum hat er es denen, aber nicht uns gegeben?“ Und der Wohl­täter legte es in folgender Weise zurecht: Er suchte einen Platz aus, wo viele Menschen zusam menzukommen pflegten, und richtete dort einen Ein­kehrhof ein. ln diesem Hause sammelte er alles, was den Menschen von Nutzen ist und ihnen Be­friedigung gewährt: warme Zimmer, gute Oefen, Holz, Beleuchtung Speicher voller Brot aller Art, Kellergewölbe mit Obst, Tee, Zucker, Kwass, Aepfeln, allerlei Imbiss, Betten, allerlei Kleidung, Wäsche, Schuhwerk — alles, wessen nur der Mensch be­darf. Und alles so viel, wie es für hundert und mehr Menschen reicht. Der Wohltäter wusste übri­gens, dass dieses Weges nicht sehr viel Menschen zu kommen pflegten. Und er dachte: „Nun denn, mögen, sie, solange es ihnen vonnöten ist, hier bleiben, essen, trinken und was sie brauchen, neh­men. Sobald der Vorrat ausgeht, werde ich neuen schaffen.“ So tat er es, richtete alles ein und ging selbst fort, abzuwarten, was geschehen würde. Und es begannen gute Leute einzukeh,en. Sie assen, tranken, blieben zur Nacht, auch ein bis zwei Tage oder eine ganze Woche. Ab und zu nahmen sie etwas vom Schuhwerk oder von der Kleidung, soweit sie es nötig hatten, brachten dann das übrige in Ordnung, wie es vor ihrer Ankunft war, damit auch andere Vorbeigehende es benützen und dann weitergehen könnten. Und sie hatten nur eines im Sinne, dem unbekannten Wohltäter zu danken. So ging die Sache in aller Ordnung vor sich, solange friedliebende, gewissen­hafte Menschen einkehrten. Und der Wohltäter ergänzte alle Vorräte, die die Einkehrenden ge­nommen hatten, und freute sich darüber. Da geschah es aber, dass dreiste, freche und böse Menschen einkehrten Sie begannen sofort zu schmausen, sich zu vergnügen, rafften alles, was da war, an sich; und es entstand sofort unter ihnen Streit um das, was vorhanden war. Anfangs überhäuften sie einander mit Schmähreden, dann begannen sie sich zu prügeln; einer nahm dem anderen das fort, was er bei sich hatte; sie fingen an aus Böswillig­keit die Gaben zu vergeuden, zu verderben, nur damit der andere nichts davon bekäme. Und sie brachten es so weit, dass weder ihnen noch den andern irgend etwas zugute kam. Und als schon alles verdorben war und sie selbst zu frieren und zu hungern und einer die Beleidigungen des andern zu erdulden begannen, fingen sie an, den Geber zu schmähen, warum er es so schlecht eingerichtet, keine Wächter angestellt, so wenig Vorräte be­schafft und warum er allerlei böse Menschen zuge­lassen habe. Jeder dachte von sich, dass er der einzig gute, die anderen aber schlecht seien. Andere aber sagten, dass es gar keinen Wirt gebe, dass der Einkehrhof von selbst entstanden sei. Und so lebten diese Leute einen, zwei, drei Tage, und als schon nichts mehr im Einkehrhof verblieb'n war, gingen sie erbost aus dem Hause und waren nur darauf bedacht, einer auf den andern zu schimpfen und den Einkehrhof sowie den, der ihn erbaut, zu schmähen.

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