Kirchliche Blätter, 1918 (Jahrgang 10, nr. 1-52)

1918-01-05 / nr. 1

Art der Reichen und Hochgestellten jener Zeit und mit allen den wilden Auswüchsen, wie sie das Zeitalter des 30 jährigen Krieges selbst für unser weitabgelegenes, aber viel heimgesuchtes Vaterland mit sie brachte. Aber die Zeitgenossen, selber in diese Unsitten verlunfen, hatten mildes Urteil. Sie wußten von den Schwächen seiner Persen abzusehen ; der Pfarrer war ihnen als Wegweiser in Gottes Wort unentbehrlich. Der Pfarr­­beruf, nicht nur um des äußeren Glanzes willen, war hochgeschäßt; er war notwendig ; denn der Pfarrer zeigt den rechten Weg zum Leben und zum Sterben ! Der Pietismus bringt einen neuen Zug auch in unser sächsisches Pfarrerbild. Neben die Lehre tritt die Liebe zur Berson unsres Heilands. Diese Liebe will Leben wirken, lebendiges Christenleben der religiös erwecten und für den Dienst des Heilands gewonnenen Kreise. Des zum Zeichen sind die Bild­­nisse der einstigen Pietisten unsres Kapitels mit dem Erueifieus geziert, während die Bildnisse der früheren Beitalters die Heilige Schrift in der Hand des Pfar­­rers oder auf dem Bücherbrett zeigen. Christliches Leben im Haus ist jet die oberste Forderung. Der lehrende und predigende Pfarrer genügt nicht; er will die Lebensgemeinschaft mit seinen Eicchenkindern suchen ; er sucht sie im engern Kreis gleichgesinnter Seelen ; der Gemeindegottesdienst und die Predigt genügt nicht ; es treten abgesonderte Vereinigungen ein (Kon­­ventifel). Ganz mit Unrecht wird die Predigtleistung und der Predigterfolg herabgeseßt. Auch unsere Lan­­deskirche verdankt dem Pietismus gemütliche und geistige Vertiefung. Hervorragend ist im Burzen­­lande und weithin anerkannt der Kronstädter Stadt­­pfarrer Mag. Marius Fronius († 1718), ein Huma­­nistisch und theologisch durchgebildeter Gelehrter und zugleich ein tieffrommer Gottesmann. Sein Wirken in Kirche und Schule hat dauernde Kraft, gehabt. Die Auswüchse des Pietismus sind bei uns nicht in dem Maße aufgeschaffen, wie in Deutschland. Die pietistische Richtung ist bei uns nie zur vollen Herr­­schaft gekommen. Auch ist sie zu bald abgelöst worden durch den Rationalismus­. Der Nationalismus in seinen verschiedenen Ab­wandlungen beherrscht vom Ende des 18. bis fast an das Ende des 19. Jahrhunderts auch unsre Kirche. Hervorragende Geister unter unsren P­farrern gehören dieser Gruppe an, aber der Durchhschnitt unsrer Rationalisten steht im Dienste des nüchternen Verstandes und der platten Moral. Auch bei ung hat er nicht gefehlt an Predigten über Ruhpoden­­impfung, Stallfütterung, Erdäpfelanbau, Büffelzucht oder an Abhandlungen über die lange Reihe der Tugenden einer Näglichkeitsanschauung. Hatte der Pietismus die Alleinherrschaft der Gemeindepredigt einzuschränken sich erlaubt, so tat der Rationalismus ein Uebriges: er raubte ihr die Seele. Herz, Gemüt, Gotteskraft wird ihr entzogen. Kein Wunder, daß die Gemeinde allmählich nir nur die Notwendigkeit der Predigt, sondern auch die Notwendigkeit des Pfarrers und seines Amtes bezweifelt. Als ich vor nahezu dreißig Jahren in das geistliche Amt eintrat, schied jenes Pfarrgeschlecht gerade aus, das si feiner Haut hatte wehren müssen. „Ba wat brede mr de darr; et Hit jo emen weg neimeft an de Kirc­h! Um sein Daseinsrecht zu erkämpfen und sich als Pfarrer unentbehrlich hinzustellen, suchte einer den Ruhm und die Arbeit des Schulmannes, der andre des Poli­­tikers, der dritte des Schriftstellers, des Geschichts­­­ [chreibers oder Naturforschers ; der vierte ergriff die Landwirtschaft in vorbildlicher Zei­tung; der fünfte redte sich nach dem Lorbeer des Dichters oder des Künstlers; man wollte alles andre nur nit Theo­­loge, nur nicht Kenner und Ausleger von Gottes Wort sein. Und das Volk sagte: als Geistliche sind sie überflüssig, aber als schneidige Führer: unsres Volkes in Wissenschaft und Schule und Leben sind sie doch noch zu brauchen. Um Lehre und theolo­­gische Studien, um Kirche und Gottesdienst — wenige ausgezeichnete Geister ausgenommen — Zimmierten sie sie wenig; ja­manche ließen die Gottesdienste verfallen; und bezüglich der Lehre war’s am be­­quemsten, den freisinnigsten Ansichten zu folgen, am liebsten denen, die wenig glaubten und wenig lehrten. Naturgemäß rangen die meisten um die Palme der „Popularität“, wie man damals das Liebäugeln mit der Wolfsgunst nannte. So war's natürlich, daß unsre Gottesdienste verödeten, daß religiöser Sinn, religiöses Leben, kirchliche Sitte in Haus und Ge­­meinde verschrumpfte. Als dann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die widergöttlichen und wider­­griftlichen Schriften von L. Büchner, von Bogt u.a. auch in unsre Kreise einbrachen und das Evangelium breitesten Lebensgenusses und tierischer­­ Selbstsucht predigten, begannen unsere Halb- und Biertele gebil­­­deten Kirche und Kirchentum sogar zu belächeln. Unsre Kanzelh aber und K­atheder waren solchen An­­griffen zumeist nicht gewachsen. Eine Art fachlichen­ Zusammenbruchs in den Städten und den gehobenen Landgemeinden trat ein. Wir Hatten seine Theo­­logen! Wer­ las und wer hielt sie damals an des Honterus Kirchenordnung: „Nachdem das vornehmste Stüd christlichen Glaubens an der Lehre gelegen ist, die Lehre aber ihren Grund hat in Gottes Wort, sollen die Gemeinden am ersten Gott um seine Gnade anrufen“ und die rechten Seelsorger wählen!?_ Mayr machte in jenen Jahren vielmehr, z. B. in Kron­­stadt, den Vorschlag, statt biblischer Stellen Leitfüße für die Predigt aus den deutschen Klassitern zu ent­­nehmen. Al ich 1871 nach der Reifeprüfung mich für das Studium der Theologie entschied, schüttelten sogar Pfarrer den Kopf, und vornehme Führer der Gemeinde bedauerten meinen Bater, daß er seinen einzigen Sohn auf ein tote Gebiet abgebe. Meaer erschien in ihren Augen als ein Wasserkopf. Und als ich vier Jahre später in meiner Probepredigt auf die Frage: „Warum sind wir noch Christen?“ die Antwort gab, das Christentum vermittelt die voll­­­kommene Religion und die edelste Sittlichkeit, und diese Antwort mit den Gründen freiester dorihung­­stüte, mußte ich von dem, auch von mir geschäßten damaligen rector gymnasii her sonstiger Anerkennung die Bemerkung Hören: „Ihre Predigt wer vorzüglich; feider aber orthodor.“ Sojehr Hatten si in unsrer:

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