Neue Zeitung, 1999 (43. évfolyam, 1-53. szám)

1999-01-02 / 1. szám

NZ 1/99 WIRTSCHAFT/MINDERHEITENPOLITIK Rekord zu erwarten Im ungarisch-deutschen bilateralen Handelsverkehr könne mit einem Rekordergebnis gerechnet werden; falls sich die Tendenz der ersten zehn Monate halte, könne der Umsatz die 15 Milliarden Dollar erreichen, stell­ten Wirtschaftsminister Attila Csikán und sein deutscher Amtskollege Wer­ner Müller fest. Beim Vorstellungs­treffen der beiden Minister in Bonn ging es vor allem um wirtschaftspoliti­sche Zielsetzungen und die Gestaltung der ungarisch-deutschen Wirtschafts­und Handelskooperation. Die Wirt­schaftsbeziehungen zwischen den bei­den Ländern sind auch in historischer Relation bedeutend, erhielten aber seit der Wende neue Impulse. Der bilatera­le Umsatz weist ein zirka 20prozenti­­ges Jahreswachstum aus. 1995 machte der Außenhandelsumsatz 8,75, 1996 10,18 und voriges Jahr 12,8 Milliarden Dollar aus. In den ersten neun Mona­ten dieses Jahres erweiterte sich der ungarische Export um 18, der Import um 25 Prozent. 37,2 Prozent der Gesamtausfuhr Ungarns geht in die Bundesrepublik Deutschland, 26,9 Prozent der Einfuhren stammen von dort. Vor allem der angewachsenen Maschinenausfuhr ist die positive Handelsbilanz zu verdanken. Mit 6,5 Milliarden Dollar sind auch ansehnli­che deutsche Betriebskapitalanlagen in Ungarn getätigt worden, d.h. 30 Prozent des gesamten Kapitalimports stammen aus Deutschland. Die Anle­ger bevorzugen vor allem Gemein­schaftsunternehmen und Grüne-Wie­­se-Investitionen. Die ungarische Wirtschaft sei derart in die Europäische Union und in die deutsche Wirtschaft eingebettet, daß die Wirtschaftsintegration der zu erwartenden politischen Integration, dem EU-Anschluß des Landes, um vieles voraus sei, betonte András Inotai, Direktor des Weltwirtschafts- Forschungsinstituts der Akademie der Wissenschaften, bei einer ungarisch­deutschen Fachberatung in Budapest. Im ostmitteleuropäischen Raum sei die ungarische Mikrowirtschaft am besten auf den EU-Anschluß vorberei­tet, und die starken Wirtschaftsbande zur Bundesrepublik Deutschland, einem der führenden EU-Länder, zei­ge sich u.a. auch darin, daß Ungarn mehr Maschinen nach Deutschland ausführe wie das langjährige EU-Mit­­glied Spanien, und der ungarische Export aus Spitzentechnologie-Er­zeugnissen bestehe. Für Ungarn sei deshalb besonders günstig, daß die Bundesrepublik für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft übernehme. In Deutschland sei mit einem Wachstum von höchstens 2 Prozent, je­doch nur mit einer Inflationsrate von 0,7 Prozent zu rechnen. Das würde für die exportierenden ungarischen Firmen Sicherheit und Konjunkturmöglichkei­ten bedeuten. / • EU will kein Minderheitenproblem importieren Die Europäische Union wolle bei ihrer Erweiterung keine Konflikte im Bereich der nationalen und ethni­schen Minderheiten importieren, wurde am 15. Dezember in Buda­pest betont. Zur Tagung unter dem Titel „Europäische Union und Min­derheitenpolitik” hatten die Bot­schaften Österreichs und Deutsch­lands sowie das Minderheitenamt eingeladen. Im Mittelpunkt standen Aufgaben und Ziele der Brüsseler Gemeinschaft in der Minderheiten­politik, die EU aus der Sicht der Selbstverwaltungen sowie Demo­kratie und Volksgruppen in Europa. Minderheitenombudsmann Dr. Jenő Kaltenbach erläuterte die Situation der Nationalitäten vom Gesichts-punkt der Integration aus und die Rolle der Minderheitenselbstverwal­tungen im Integrationsprozeß. Der deutsche Gesandte Georg von Neu­­bronner hielt ein sehr interessantes Referat über den Beitrag der Gebietskörperschaften, Gemeinden und Regionen zum Minderheiten­schutz. Von deutscher Seite verstehe man unter europäischer Politik nicht nur das Globale, sondern auch die Zusammenarbeit der Rathäuser über Grenzen hinweg. Der EU-Delegierte in Ungarn Michael Lake verwies auf die Lage der Roma, die hier diskri­miniert würden, dieser Zustand müsse beseitigt werden. (Lesen Sie dazu auch unser Gespräch mit Dr. Kaltenbach!) Auf ungarischer Seite wurde erneut erklärt, die Novellie­rung des Minderheitengesetzes sei auch wegen des EU-Beitrittes not­wendig, und die neue Regierungs­struktur sei dieser dienlich, weil hier noch sehr viele juristische Aufgaben bewältigt werden müßten. Vertreter der Landesselbstverwaltungen und ihrer Forschungsinstitutionen be­grüßten, daß die Tagung zu einem besseren Verständnis zwischen dem Europäischen Rat und den betroffe­nen Minderheitenselbstverwaltun­gen beitragen kann. Von Neubronner teilte mit, Deutschland werde wäh­rend seiner EU-Präsidentschaft die­sen Dialog fortsetzen und in Buda­pest eine ähnliche Tagung einberu­fen. Minderheiten kein Sicherheitsrisiko In den letzten Monaten hörte man von Politi­kern der EU und auch von Vertretern dieser Länder in Ungarn, daß man die Minderheiten in den Beitrittsländem als Sicherheitsrisiko betrachte. Minderheiten: Bereicherung oder Risiko? Zu diesem Thema befragten wir den parlamentarischen Beauftragten für Minder­heitenfragen, Dr. Jenő Kaltenbach. Herr Kaltenbach, könnten Minder­heiten auf eine längere Sicht zum Sicherheitsrisiko in Europa werden, und etwa die Stabilität der Europäi­schen Union gefährden? Das ist korrekt. Die Frage der Minderheiten rückt auch in anderen Staaten immer mehr in den Mittel­punkt, nicht nur in Ungarn. Länder, wie z.B. Frankreich, das sich nicht all zu sehr um Minderheiten gekümmert hat, ändern ihre Poli­tik. Nicht sofort und grundsätzlich, es gibt aber eine Neigung dazu - dies gilt auch für Länder wie Spa­nien, Italien und England - und ein immer stärkeres Interesse. Das ist aber kein Zufall. Die Minderheiten­problematik ist einfach dadurch zu erklären, daß sich die Gesellschaf­ten in Europa in den letzten Jahr­zehnten grundsätzlich geändert haben. Frankreich, England, Italien und Deutschland waren mehr oder weniger homogene Länder, oder man hat es mindestens behauptet. Mittlerweile sind diese Gesell­schaften multikulturell geworden. Sehr viele Menschen lehnen diesen Begriff ab, aber es ist einfach so. Der Anteil der Nichtdeutschen in der Bundesrepublik erreicht inzwi­schen 10 Prozent, jeder fünfte Schwede wurde außerhalb der Lan­desgrenzen geboren. Eine Rück­kehr zu dem klassischen National­staat ist also im heutigen Europa undenkbar. Deshalb ist es wichtig, analog zu der neuen Situation einen neuen Konsens zu finden. Dieser Konsens wurde noch nicht gefun­den. Es gibt immer noch Leute, die glauben, die Minderheiten würden verschwinden. Das ist ein Irrtum, und damit habe ich einen sehr mil­den Begriff gewählt für die Torheit dieses Standpunktes. Viele meinen und sagen auch ganz direkt, Minderheiten sind en bloc ein Risiko für Europa und ganz besonders für die Europäische Union. Kaim man diese These so ste­hen lassen? Ich glaube nicht. Sie bedeuten ein Risiko, wenn wir unsere Auf­fassung, was Demokratie und das Miteinander betrifft, nicht grund­sätzlich ändern. Ich nehme an, daß viele Politiker, viele Parteien das mittlerweile eingesehen haben. Immer mehr werden verschiedene Wege gesucht und auch gefunden, wie man diese Probleme in den Griff bekommen kann. Aber noch einmal: Auf dem alten Weg geht es nicht mehr. Es geht nicht um die Dominanz von Mehrheit oder Min­derheit, es geht um ein friedliches Miteinander, Füreinander und Nebeneinander. Einschmelzung und Beherrschung sind passé in Europa. Und doch hört man von immer mehr Politikern aus den Ländern der Euro­päischen Union - wo sie auch stets Vertreter ihres Landes sind - eine ganz andere Meinung, die Sie gerade als Torheit bezeichneten. Natürlich gibt es immer Ewig­gestrige. Es gibt Leute, die die Ent­wicklung nicht begreifen können, weil sie Gefangene ihrer eigenen Gedanken sind. Ich glaube aber, daß man nicht von einer Mehrheit sprechen kann, die so denkt. Ich hoffe, zumindest die jüngere Gene­ration versteht, worum es geht, und sich auch für eine friedliche Lösung engagiert. Wenn es näm­lich nicht gelingt, einen Konsens zu finden, dann ist es vorbei mit Euro­pa. Glauben Sie, daß etwa ganz speziell die Minderheiten Ungarns den Bei­tritt des Landes in die Europäische Union verhindern könnten? Das ist durchaus möglich. Die Probleme der Roma-Minderheit können den Beitritt unter Umstän­den wirklich verhindern. Ich warne alle, die denken, es wäre ein „abgekartetes Spiel”, daß Ungarn Mitglied der Europäischen Union wird. Eine wichtige Frage dabei ist die Lage der Minderheiten. Und die EU hat klipp und klar, und nicht einmal, sondern vielmals, gesagt: Wer mit seinen Minderhei­ten nicht klarkommt, gehört nicht zu Europa. Welche Chancen sehen Sie hier per­sönlich? Ich bin zuversichtlich, daß Ungarn Mitglied der EU werden kann und auch so entschieden wird. Aber noch einmal: Es gibt keinen Automatismus. Herr Kaltenbach, wir danken Ihnen für dieses Gespräch! char 3

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