Bukarester Gemeindeblatt, 1911 (Jahrgang 7, nr. 1-52)

1911-07-24 / nr. 30

emeindeblatt - Organ des Synodalverbandes der deutschen evangelischen Gemeinden an der unteren Donau Unaufmerksame Hörer. Wie viele hören das Evangelium und hören es doch nicht aufmerksam! Eine Börsendepetche, die lesen sie mit beiden Augen — werden die Papiere steigen oder fallen? Einen Aufjab, der sie auf die Handelsströmung im all­­gemeinen schließen läßt, wie ihr Geist den verschlingt, wie sie seinen Sinn aufsaugen und dann gehen und dann zur Ausübung bringen, was sie aus ihm geschöpft haben ! Man hört eine Predigt, und sich, da wird der Prediger beurteilt, wie er sie gehalten habe — als wenn ein Daun, wer ein Telegramm lief 2[0ate,­ der Großbuchstabe hier hat nicht genug Schwärze bekommen in der Presse, oder das Pünktchen über dem „ti“ ist weggeblieben; oder als wenn ein Mann, der einen geschäftlichen Aufsatz liest, den Stil des Aufsatzes kritisierte, statt daß er suchte dahinter zu kommen, was er besagt, und handelte nach seinem Rate. O die­­ Mensc­hen, wie sie zuhören und meinen, es sei recht und wunder wie vernünftig, daß sie nachher sagen, die Predigt gefiel ihnen, oder gefiel ihnen nicht, da es doch der Predigt Sache nicht ist, nach eurem Geschmack zu sein, ihre Sache viel­­mehr ist, eure Seelen zu retten, daß ihr nicht obliegt, euren Beifall zu finden, sondern eure Herzen Jesu zu ge­­winnen und euch dahin zu bringen, daß ihr euch wieder versöhnet mit Gott. 55 = Spurgeon. „Geistesstrahlen.” 5 EN Ferienkolonieen. Es ist ein schöner Gedanke gewesen, den der Obmann unseres Waisenhauskomitees, Herr Jacobi, in einer Situng vor den diesjährigen großen Ferien äußerte, die Mädchen unseres Waisenhauses mit der Waisenmutter für einen Teil der Ferienzeit in die Sommerfrische, aufs Land hinauszuschiken. Sie sollen in Gottes herrlicher Natur reiche Freude finden. Die jagenden Berge sollen sie sehen und das Waldesrauschen hören, Leib und Seele erquicken an dem köstlichen Duft, der aus dem frischen Grün der Wiesen ihnen entgegenweht, mit Jugendlust sich tummeln Geschäftsstelle, Gemeindekanzlei, Str. Luterana 10, im lieblichen Talgrund und auf luftigen Höhen ihre frohen Lieder singen. Mit heller Freude sind sie ausgezogen, haben die Wunder einer längeren Bahnfahrt erlebt und weilen nun schon seit einigen Wochen in Poiana Za­­pului. Der Aufenthalt in den Karpathen wird ihnen gut tun. Aus den Karten, die sie sc­ieten, klingt der laute Ton jubelnder Freude. Sie werden diesen Sommeraufent­­halt in den schönen Bergen nicht vergessen und hoffentlich auch später mit Dankbarkeit dabei der Gemeinde gedenken, die ihnen diese Reise ermöglichte. Hoffentlich wird der Wunsch des Herrn Seewaldt, daß auch den Knaben unseres Waisenhauses solch ein Sommeraufenthalt geboten werden möge, im nächsten Jahre in Erfüllung gehen. Der erziehliche Wert einer solchen Einrichtung leuchtet ohne Weiteres ein. Wie kann da das junge Kindesgemüt zur sinnigen Betrachtung der N iatur angeleitet werden, Gottes Herrlichkeit im Spiegel der Schöpfung erfannt und von frommer Seele gepriesen werden! Auch vom Standpunkt der Körperpflege ist eine solche Maßnahme gewißlich zu loben. Großstadtkinder entbehren­ doch viel, wenn sie jahraus jahrein in die Steinmassen der Stadt eingeschlossen bleiben, in dumpfer Gemächer quetschender Enge und in nicht immer wohlriechenden Höfen sich aufhalten müssen. Es ist ein ernstes Wort, das Frem­ssen, der schnell berühmt gewordene Dichter, als er noch Dorfpfarrer war, in einer Predigt über „Menschenleben“ gesagt hat : Es gibt ja Leute, die leiblich im Dunkeln wohnen. Nicht allein die Blinden... Sondern ich denke an die hohen engen Straßen in den großen Städten, in welche die Sonne nicht hineinschauen kann. Ich sage nicht zuviel, wenn ich behaupte, daß eine Million Menschen in unserem Vater­­land, davon die Hälfte bedauern unwerte Kinder, im Dunkeln wohnen. An diese Not im Volke sollst du gelegentlich­­ denken. Sollst erst Gott danken, daß er dich auf­­wachsen ließ, wo der Wind über das freie Feld fuhr und nicht in­ dem Falten Steinhaufen einer großen Stadt, sollst zum zweiten aufhorten und cristliches d. h. heißes Interesse haben, wenn du in der Zeitung das Wort „Wohnungsfrage“ liest oder „Wohnungsnot“. Ss) Schriftleitung : Pfarrer R. Honigberger. [] _

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