Bukarester Gemeindeblatt, 1923 (Jahrgang 15, nr. 1-52)

1923-10-28 / nr. 43

Jahrgang XU Sonntag, den 28. Oktober 1923 Do. 43 Buharester Gemeindeblatt «P8W! r Schriftleitung: R. Honigberger | Geschäftsstelle: Gemeindekanzlei, Str. Lutherana 10 Zur 25jährigen Jubelfeier des Bukarester evang. Waisenhauses. Die Bukarester evang. Gemeinde hat in diesem Jahre das seltene Glück, die Gründungstage dreier Anstalten feiern zu können, unter denen das Wai­senhaus als die jüngste in einigen Tagen auf 25 Jahre seines Bestehens zurückblicken kann. In der Erinnerung an den Segen, der in diesem Zeit­raum von dieser Stätte ausgegangen ist, wird der Jubeltag ein Tag gehobener Festesfreude sein, die uns aber den Dank für das Vollbrachte nicht ver­gessen lassen und uns gleichzeitig zu neuem ge­meinnützigen Wirken und Schaffen begeistern soll. Wenn schon Kirche und Schule es verdienen, in ihren segensbringenden Bestrebungen sorgsam gepflegt und gefördert zu werden, um wieviel mehr verdient es die Arbeit der Waisenfürsorge, eine der schönsten und edelsten Betätigungen christlicher Nächstenliebe! Davon war auch Friedrich Mötsch ü­­berzeugt, der in der Reihe der Männer^ die für die hohen idealen Ziele dieser Gemeinde mit ihrer ganzen Kraft eingetreten sind und die höchsten Opfer gebracht haben, die erste Stelle einnimmt. Sein Name ist mit dem der Bukarester evang. Ge­meinde eng verbunden, denn nahezu jede ihrer Anstalten verdankt ihr Entstehen seinem gross­herzigen Opfersinn. Es ist wohl hier am Platze, über den Lebensgang dieses vortrefflichen Mannes, dem auch das Waisenhaus seine Entstehung ver­dankt, kurz zu berichten und seine Verdienste in dankbare Erinnerung zu rufen. Friedrich Hötsch, geh. am 29. Juni 1904 zu Gross-Rössen bei Torgau, Provinz Sachsen, ge­langte im Jahre 1835 auf seiner Wanderschaft nach Bukarest und begann hier unter bescheidenen Ver­hältnissen sein Kammmacherhandwerk auszuüben. Durch Fleiss und Sparsamkeit gelang es ihm, die Mittel zu erwerben, die schon nach fünfjähriger Tä­tigkeit die Eröffnung eines kleinen Ladens er­möglichten. Das Geschäft, in dem nicht nur seine Erzeugnisse, sondern auch ausländische Galante­riewaren verkauft wurden, fand solchen Zuspruch, dass Hötsch und seine umsichtige Gattin es nicht mehr allein versehen konnten und nach einer tüch­tigen Hilfskraft Ausschau hielten. Diese fanden sie auch bald in der Person ihres Neffen, des jungen C. H. Müller. Mit dessen Eintritt ent­wickelte sich das Geschäft zu solcher Blüte, dass an eine Vergrösserung gedacht werden musste. Dieser Plan wurde auch bald in die Tat umgesetzt. An einem günstig gelegenen Platz der Haupt­strasse hatte Hötsch ein Haus erworben, in wel­chem das bedeutend vergrösserte Geschäft unter­gebracht werden konnte. Unter der Firma „Hötsch- Müller“ ist es im Laufe der Jahre zu einem der bedeutendsten Geschäfte Bukarests geworden und hat dem deutschen Namen hier Ehre gemacht. Hötsch, der nahezu mittellos nach Bukarest ge­kommen war, brachte es durch seiner Hände Arbeit, durch Fleiss und Sparsamkeit in verhältnismässig kurzer Zeit zu Wohlstand. Dabei unterstützte ihn seine aus Kronstadt stammende Gattin in • hervor­ragender Weise. Beide waren schlichte und be­scheidene Leute, die in treuer Pflichterfüllung ih­ren höchsten Lebenszweck sahen und ihren christli­chen Glauben in werktätiger Nächstenliebe äus­­serten. Den grössten Teil seines Vermögens ver­machte Hötsch, dessen Ehe kinderlos geblieben war, noch bei seinen Lebzeiten der evang. Ge­meinde zu Bukarest, mit der er sich bis zu seinem im Jahre 1880 in Baden bei Wien erfolgten Tode eng verbunden fühlte. Nicht nur die meisten un­serer Gemeindeanstalten verdanken diesem grossen Wohltäter ihr Entstehen, sondern auch viele unserer gemeinnützigen Stiftungen führen seinen Namen. Die Früchte seines Lebenswerkes haben der evang. Gemeinde reichen Segen gebracht und waren gleich­zeitig für die Entwicklung des Deutschtums in Bu­karest von weittragender Bedeutung. Dass sein Andenken unter uns stets lebendig bleiben wird, dafür bürgen uns die Namen der Brüder O. u. H. Müller, die im Geiste ihres Grossonkels an der Fortentwicklung dieser Gemeinde mitarbeiten und das von ihren Vorfahren übernommene Erbe zu er­halten und zu mehren suchen. Dass Friedrich Hötsch für wirkliche Not ein fühlendes Herz und eine offene Hand hatte, beweist seine im Jahre 1880, kurz vor seinem Tode errich­tete Stiftung von 107,000 Lei zur Gründung eines evang. Waisenhauses in Bukarest. Um der Anstalt ein genügendes Kapital zu ihrer Erhaltung zu si­chern, war es sein ausdrücklicher Wunsch, das Waisenhaus erst dann zu eröffnen, wenn das Ka­pital die Höhe von 300,000 Lei erreicht hätte. Inzwischen machten die Vertrauensmänner der evang. Armenpflege wiederholt darauf aufmerksam, wie dringend notwendig ein Waisenhaijs für die Evangelischen hier sei. Wer Gelegenheit gehabt hatte, die herzbeweglichen Klagen Hilfsbedürftiger zu hören, die in ihrer Not und in ihrem Elend auch noch für frühverwaiste Kinder von Verwandten sor­gen mussten, der wird es verstehen, dass man

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