Neues Pester Journal, April 1894 (Jahrgang 23, nr. 91-110)

1894-04-01 / nr. 91

Sonntag, 1. April 1894. Neues Bester Kononal, Seite 2 ein polnischer Gedenktag. Wo irgend auf dem Erdenrunde ein Polen: ‚herz schlägt, da wird es heute ergriffen von weh: ‚müthiger Erinnerung an das legte Aufflam­­men der bald darauf erloschenen staatlihen Lebens» , Franz Bolens, ein Aufflammen, welches, dem durch ‚gesprengte Sargdedel schimmernden Lichte gleich, in Die Weit Zukunft herein der Niobe der Nationen die Geburg verheißt. In den polnischen Landestheilen Oesterreichs und Preußens und ‚überall, wo polnische Auswanderer, Flüchtlinge und Verbannte eine neue Heimath gefunden haben, ur in Ruffishe Bd­en nicht, wo mit unbarmherziger Strenge jede nationale Lebensregung niedergehalten wird, da wird heute die hundertste Wiederkehr des Tages begangen, an melchem Taphaus Kosciuszko, nachdem er die Diktatur über­­nommen hatte, auf dem Stralauer Ningplaße vor allem Bolte den Schwur leistete, die ihm anver­­traute Macht zu Niemands Bedrohung, sondern zur allgemeinen Freiheit zu gebrauchen. Das it die Tragit im Gefchide Polens und das hat der unglücklichen Nation die Sym­pathien aller von Mtenidenz und Freiheitsliebe bewegten Seelen gewonnen, daß im Nugendliche, als das gewaltige, einst von der Ostsee bis zum Schwarzen Meere sich­erfriedende Neid­ unter der seit der Gegenreformation von Adel und Klerus ‚gehäuften Sündenlast zusammenbrach, noch einmal die edlen Charakterzüge und trefflichen Anlagen der Nati­on in dem Berjude offenbarten, den untergebe­nen Staat auf neue, breitere Grund­lagen zu stellen, die in grausamster Knechtschaft gehaltene große Mehrheit der Nation zu entfesseln und so dem Königreiche die einstige, für den Schug der westlichen Kultur gegen das riesig anschwel­­lende Rußland merthvolle Weltstellung zurück­­zuerobern. Die Verfassung von 1791, welche die ärgsten Mißbräuche des polnischen Konstitutionalis­­mus beseitigte, war fern davon, einen modernen Rechtsstaat und bürgerliche Freiheit und Gleich­­berechtigung zu schaffen,­ aber sie war doch ein freiwilliger theilweiser V­erzicht auf die Woels­­privilegien zu Gunsten der Staatsmacht und schuf 10 wenigstens die Möglichkeit des Aufstiegs aus der völligen Bek­umpfung und Bek­ommen­heit. Die an die Neugestaltung geknüpften Hoffnungen wurden bitter enttäuscht. Der auf seinen riesigen Befigungen nach Despotenart hausende Hochadel, welcher an dem Niedergange des Königreichs wollte nicht die Neukräftigung des Staates, aus dessen Leibe ‚heraus er seine in fast völliger Unabhängig­­keit bestehenden Befikungen gerissen hatte ; ihm galten das Not und das Wohl des Adels als Heiliger, denn die Unabhängigkeit und d die vornehmlichste Schuld trug, wurde rasch vollzogen; aber auch unsagbares Lob hat aus den polnischen Herzen nicht die Zuversicht verdrängen können: „Noch m it Bólen nicht ver­­loren !" Welcher Ruf wird sich bewahrheiten ? Iit den Polen noch eine staatliche Zukunft beschieden oder nur eine nationale, wie solche ihnen in Oesterreich und in geringerem Maße auch in Preußen ermöglicht ist? Mederschauen wir die heut­tigen ° entopulióen Verhältnisse, so erscheint die Wiederaufrichtung des Königreichs undenkbar, weil selbst die Existenz des Vaterlands. Im Solde der tussischen Regierung stehend, Hatte er an die große Bah­n Stud um Stud der polnischen Erde preisgegeben ; nun verband er si zur Konfödera­­tion von Targowica und mit fremder Waffenhilfe warf der Sonderbund das polnische Heer nieder, und der lette polnische Reichstag genehmigte, als ihn Die russischen Slinienläufe drohten. Die zweite Theilung Polens. Um dieses für immer wider­­standsunfähig zu machen, wurde von den in Warschau lebenden hochadeligen Söldlingen Ruß­­lands die Reduktion der auf zahlreichen Schlacht­­feldern als todesmüthig bewährten Armee bis auf einen jümmerlichen Rest angeordnet. Die beste Hoffnung der Batristen Schwand, jeden Augenblic fürstete Die rathlose, verzweifelte Nation, Die Sterbeglode des Vaterlands zu hören. Da traf am 23. März 1794 heimlich in Krakau ein polnischer General ein, auf welchen ih Die Hoffnungen der Nation während der legten Jahre gerichtet hatten: Tadäus Kosciuszto, der Sohn eines litthauischen Edelmannes, im pol­­nischen Kadetenkorps ausgebildet, nach Frankreich und Deutschland zur V­ervollkommmung seiner milit­­ärischen Kenntnisse geschickt, nach Nordamerika ausgewandert, wo er, als Washington’s Gehilfe, zum General aufgestiegen war, dann heimgekührt und in dem unglücklichen SKampfe für die Ber­­faffung von 1791 als tüchtiger Peldher erprobt und bald nach Deutschland in die nicht ganz frei­­willige Verbannung gegangen. Kosciuszto über­­nahm die ihm angetragene Diktatur und leistete vor hundert Jahren jenen Eid, dessen An­­denten Heute gefeiert wird und den er treulich gehalten hat. Das Moelsheer war zerrüttet, fast vernichtet , aber der Diktator hatte im Aus­­lande nicht nur die Ideen der Freiheit eingezogen, auch die gewaltige im Volke geborgene kriegerische Kraft kennen gelernt. So verhieß er den Bauern die Befreiung von der Leibeigenschaft und den Juden die Gleichberechtigung . Tausende und Aber­­tausende eilten zu seinen Fahnen, und bald führte er die Sensenmänner von Sieg zu Sieg, eroberte Warshau und vertheidigte es erfolgreich gegen ein preußisches Heer. Nicht nur für Die Unabhängige Zeit, auch für die bürgerliche Freiheit wurde ge­­stritten mit wunderbarem Glücke, bis Dann im Oktober in der Schlacht bei Maciejowice die junge polnische Wehrkraft von der russischen Mebermacht erbrüch und der schwer verwundete Kosciuszfo ger­fangen wurde. Finıs Poloniae­ soll der Feldherr gerufen haben, als er blutend zusammenbrach. Der Ruf ist längst als einer der zahlreichen Treppenwege der Weltgeschichte erwiesen, die auf Grund später ge­wonnener Erfahrungen stets einen Kern von Wahrheit bergen. Die dritte T­heilung Polen­sggebung der Poten an Rußland durch den Bapst sie eine gleichzeitige Niederlage der drei europäi­­schen Kaisermächte zur Vorauslegung hat — das Schlachtenunglück einer oder zweier diese­­ Mächte würde immer nur zum Anfall ihrer polnischen Be­ fisungen an den Sieger führen. Aber wir haben wunderbare Auferstehungen erlebt. Bulgarien ist aus halbtausendjährigen Trümmern neu aufgerichtet worden, obwohl die Bulgaren ihre einstige staat­­liche Existenz und selbst ihre Nationalität vergessen hatten. Wir meinen, die Zukunft der Polen hängt davon ab, wie heute Die Erinnerungsfeier began­­gen wird. Feiern Die in SKralau versammelten Hunderttausende, die heute, wie die Wioslems beim Gebete nach Diekla schauen, ihre Blide andachts­­voll nach der alten Königsstadt richtenden Pillio­­nen-nur die glänzenden Siege Sosciuszko’s, wir fürchten, sie werden vergebens der Erlösung har­­ren. Wohl rettet das Grinnern an jenes legte Aufleuchten der polnischen Staatskraft vor dem Betragen. Wer in Die untergehende Sonne blicht, den umschimmert noch lange nach dem Versinfen des Gestirns das gebcaute Licht; der Gedanke an die Art, wie Polen für seine Existenz gestritten hat, wirft einen Schimmer auf den sonst dunklen Lebenspfad der polnischen Nation. Doch er gibt nur die Hoffnung, nicht die Bermwirtz­lung. Diese it nur in der von Kosciuszko ge­­wiesenen Richtung möglich. Die Bauernbefreiung, die Berechtigung der Bürger, die Glaubensfreiheit. Alles, was der große Feldherr, der von den Monarchen in seiner Solothurner Zurich­gezogenheit aufgesuchte und geehrte Bürger zweier Welten, verheißen hatte, es ist von seinen Landsleuten selbst während der Siegeszeit der Revolutionen verleugnet worden. Die Regierungen Preußens, Oesterreichs und selbst Rußlands haben die vom polnischen Adel Hartnädig verweigerte Emanzipation der Bauern durchgeführt, und zur Stunde besteht für diese wie für den Bürger­­stand noch die geistige Leibeigenschaft. Am Leit­­seile des sprichwörtlichen „brennenden Katholizis­­mus“ führt der römische Klerus die Voten zu den Füßen des Adels, der die Vertretung in den Par­­lamenten, den Landtagen und der Verwaltung monopolisirt. Vielleicht bringt die Entrüstung über die in der jüngsten Encyklika verkündete Preis: SERIE mit fernliegenden Dingen. CS zwingt auszuhar­­ren, wo der Gedanke bei der ersten Schwierigkeit der Ausgestaltung ausweichen möchte. Cs ist mie der­ Operationsstuhl des Zahnbrechers. Denn Der Dentende, der eine Folge von Gedanken Iostwer­­den will, ist oft wie der Patient, dem auf ein­­mal nichts weh thut, sobald ihm der­ Mann mit der Zange nahe kommt, und der gern die Sache auf ein anderes Mal verschieben möchte. So verstehe id) Blaubert’s Ausspruch, daß man nur fihend denken kann, womit id) Ah mot jagen will, daß man nur fihend Gedanken hat. Aber vielleicht hat nur Nieksche in gemeissen Sinne redt, der Mann, der da sagt: Nur die er­­gangenen Dechanten haben Werth. Wir willen, daß Denker im Allgemeinen es lieben, Bewegung zu machen. Wir stellen uns Gelehrte fitend, aber Philo­­sophen wandelnd vor. Die griechischen Meisheits­­lehrer hatten ihre Schüler nie in Bänken oder an Tischen vor sich, sondern gingen, von Der Jugend umgeben, eine Bahn entlang ; von diesem Gebrauch an eine ganze Schule, die Der Peripatetiter, ihren Namen. Einen Philosophen, der sein bloker Zweifler und Deutler ist, sondern Gedanken schafft, malen wir uns nicht lauernd oder hodend oder zum Träu­­men hingestrebt, sondern ausschreitend aus, wie er Thäler Durchmwandert, Hügel ersteigt und den freien Blick vom höchsten Blitt nach den unweitesten Entfer­nungen sendet. Schon der gewöhnliche Mensch geht, wenn er angelegentli­cu Denten hat, innerhalb seiner vier Wände auf und ab. Das muß seine physischen und seelischen Gründe haben. Zu den ersteren gehört sicherli­­cher Zusammenhang Der Denttkütigkeit mit dem Zuströmen des Blutes nach dem Gehirn. Bewegung fördert diesen befruchtenden Kreislauf. Zu den psychologischen Gründen müssen wir es rechnen, was überhaupt jede stärkere innere Regung zu einer äußeren Bewegung den Anstoß gibt. Das aber würde nur erklärten, daß lebhafte und große Gedanken den Antrieb zum Gehen enthalten, nicht aber, was umgekehrt die großen Gedanken „er­­­gangen“ wren. Und so wird es auch wohl sein. Die Erregung des Denkens, die sich im Stopfe tummelt, beflügelt unsere Füße — umge­­kehrt Hieße so viel, wie sagen, daß die tüchtigen Hodeen aus den Füßen kommen und die Touristen­­vereine für die Gedankenwelt mehr bedeuten, als die Akademien der Misserschaften. Mein Freund, den ich oben citi­t, bestätigt Diese meine Aufteijung aus seiner Dichterpraxis. „Ich muß fibhen und die Teder in der Hand halten“, sagte er mir, „wenn ich Gedanken festhalten, ordnen, gegen einander ab­wägen und in rechter Form verkörpern will. Aber wenn mir neue Gedank­en kommen oder ein vorhan­­dener in unerwartete, vielfältige Triebe schieft, dann springe ich empor und muß laufen — hinaus aus der Stube oder hin und wieder in der Stube, bis ich mich beruhigt oder ermüdet habe... Denn das Schwierige Des Denkens liegt für den, in dem über­­haupt etwas vorgeht, nicht darin, daß ihm seine Gedan­­ken kommen wollen, sondern darin, daß sie ihn über­­fallen, zu rasch oder zu vielfach und daß er abmessen muß,­­ was ihn stört, oder zurückschieben, was ihn überwältigt, es sei denn, daß er Monstra gebären will, in denen, wie bei Jean Vaul’3, des geistreichsten Menschen, Werten, die Gedanken einander todtorüden. Und überhaupt ist es nicht das Zeichen der über­­ragenden und schöpferischen Geister, daß sie viele Ge­­danken auf einmal haben. Dem Begnadeten und Meister stellt sich Alles, wie e­s braucht und wann er’s braucht. Er ist Der wahre Reiche, der immer Geld hat und jeden Moment anweisen kann, so viel er noch hat. Dem Glücsfind einer kurzen Glanz­­periode, dem Parvenu einer­ „Konjunktur“ allein rafiirt es, daß er mit vollen Händen mehr ausstreut, als er braucht, und als Verschwender auftritt. Das Genie, das immer Dämonitid getrieben herumläuft, ist von kurzathmigem Neihthum . . . Aber jedenfalls ist ein Mensch mit reichem Gehirn, wenn man ihn viel auf den Beinen sieht, eher einer, der vor seinen Gedanken davonläuft, als ein solcher, der ihnen nachrennt.“ * ein Staunen in uns erregen, als ob wir uns selber­­ wären ; zugleich tregung, als ob das Mederraschende, das uns begegnet, etwas wäre, das wmerfahrensten Laienohr wie bekannt Elingt, muhte in Schopenhauer der Gedanke von dem der Welt als Wille, so in Pythagoras der Sa stehen, den er mit dem Worte: Heureka! Gesu begrüßte. Und Da gewinnt die Beobachtung vo­­­n jú { !

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