Literarische Berichte aus Ungarn 2. (Budapest, 1878)

1. szám - Gustav Heinrich: Ungarische Dichtungen in deutscher Gestalt

74 UNGARISCHE DICHTUNGEN IN DEUTSCHER GESTALT. seinem Volke gegenüber: was er schafft, ist ein literarisches Pro­duct und muss in Sprache, Stil und Form auf dem Niveau der literarischen Bildung seines Volkes und seiner Zeit stehen. Nicht nur die Meister, auch die Gesellen der Uebersetzungskunst sind sich dieser ihrer zweifachen Pflicht bewusst und suchen derselben zu entsprechen. Die Uebersetzer aus dem Ungarischen haben wie­derholt diese ihre Doppelpflicht verletzt. Ein ganz falscher Begriff der «Treue» hat sie zu sclavischen Uebersetzern des fremden Wortes gemacht; ein naiver Anspruch auf sprachliche und for­melle Licenzen hat ihren Arbeiten den Charakter literarischer Producte benommen. Die Verdeutschungen Geibel’s, Freiligrath’s, P. Heyse’s, W. .Jordan’s und zahlreicher Anderer sind werthvolle Bestandtheile der deutschen Nationalliteratur ; die Uebersetzungen aus dem Ungarischen gehören in die Abtheilung der literarischen, theilweise der ethnographischen Curiositäten. Es ist endlich an der Zeit, dass wir Ungarn selbst, im Interesse unserer eigenen, schönen poetischen Literatur, auch im Interesse unserer deutschen Sprachkenntnisse gegen die üblichen deutschen Verballhornungen unserer Dichter energisch Protest erheben. Zum Uebersetzen un­garischer Dichtungen ist niemand gezwungen. Wer im Gesang schwach ist, schlage die Leier entzwei — sagt ebenso richtig als treffend Platen. * Eine in vielfacher Beziehung erfreuliche Ausnahme von der üblichen Praxis bildet die zweite Petöfi-Uebersetzung, welche uns vorliegt: die Uebertragung des PETÖFi’schen Märchens vom Hel­den János durch J. Schnitzer. ** Auch dies Buch — es ist glänzend ausgestattet und mit dem treuen Bilde des Dichters und vier hübschen Illustrationen geziert — hat Mór. Jókai, der Jugendfreund Petöfi’s, bevorwortet. Der­selbe widmet zunächst der Dichtung selbst einige treffende Worte der Charakteristik. «Eigenartig und urwüchsig, wie alle Gedichte Petöfi’s — sagt Jókai — ist auch sein «Held János». Eigenartig in der Erfindung, in der Form, in der mitunter verwegenen Phan­tasie der Dichtung, wie in ihrem treuherzigen Ausdruck. In der Hauptfigur des Gedichtes ist der echte Pusztensohn in genialer Weise geschildert. Held János ist eine populäre Figur, die im un­garischen Volksmärchen von Mund zu Mund getragen, fortlebt. Die Einzelnlieiten des Märchens sind, ebenso wie jene der Ilias, * Es handelt sich hier um den Charakter einer Richtung, nicht um vereinzelte Leistungen, von denen manche willig als lobenswerthe Ausnah­men zugestanden werden sollen. ** Held János. Ein ungarisches Märchen von Petőfi. In deutscher Nachdichtung von J. Schnitzer. Mit einem Vorworte von M. Jókai. Das Bildniss des Dichters von Barabás, die Illustrationen von Jankó. Leipzig, 1878. VI und 151. S.

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